Der Mensch als Objekt,
als Prozess und als System.
Die Auswirkungen unseres Menschenbildes
auf unser soziales Miteinander
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Bereits zu Urzeiten zogen wir in sozialen Verbänden über den Planeten. Inzwischen haben wir Abkömmlinge aus der Linie der Bonobos und Schimpansen es geschafft, den gesamten Planeten so dicht zu besiedeln, dass kaum mehr ein Fleckchen unberührter Natur zu finden ist.
Wo und wie auch immer wir leben, wir erleben jeden Tag eine Unzahl an Interaktionen mit Mitgliedern unserer Art. Wie diese verlaufen, ist stark abhängig davon, vor welchem Menschenbild wir selbst und unsere Interaktionspartner das, was wir miteinander erleben, interpretieren und deuten.
Hierbei ist zu erwähnen, dass die moderne Psychologie kein gemeinsames Menschenbild aufweist. Je nach Denkschule, Vorbildern und persönlichen Erfahrungen variieren die Modelle, mit denen der Mensch beschrieben wird. Ebenso sehen wir selbst uns selbst und unsere Mitmenschen vor dem Hintergrund grundlegender Annahmen darüber, wer oder was genau eigentlich dieses „ich“ ist, von dem hier alle ständig reden.
Objektfokus:
Der 3-Dimensionale Mensch
Voraussichtlich betrachtet zur Zeit noch die Mehrheit der Menschen in unserer Kultur die Welt grundlegend als ein aus kleineren, voneinander verschiedenen Objekten zusammengesetztes Ding. Dies ist ein Baum, das ist ein Fahrrad, das bist du, das bin ich, und das sind Liebe, Freiheit, Glück, Erfolg oder Sex.
Ein Ding oder Objekt hat eine Anzahl gleichbleibender Eigenschaften, durch die es sich auszeichnet und beschreiben lässt. Aus dem Objektfokus heraus betrachten wir die Eigenschaften unseres Gegenübers und wissen zügig: Er oder sie ist Mann oder Frau, attraktiv oder unattraktiv, vertraut oder fremd, wichtig oder unwichtig, Freund oder Feind. Hierin liegt die Stärke des Objektfokus: In der schnellen Klassifikation und Kategorisierung unserer Mitmenschen an Hand leicht zu erfassender äußerer Merkmale.
Menschen mit Objektfokus interessieren sich in Bezug auf ihre Mitmenschen vor allem für drei Dinge:
- Wie sieht er / sie aus?
- Was sagt er / sie?
und - Was tut er / sie?
Sind diese drei Fragen ausreichend konsistent geklärt, glauben objektfokussierte Menschen leider allzu leicht, sie hätten dadurch ein verlässliches Modell von ihrem Gegenüber. In der Tat zeichnet sich die objektfokussierte Sicht durch eine hohe Trefferquote aus. Menschen, die wir kennen, verhalten sich die allermeiste Zeit über so, wie wir es von ihnen erwarten. In Anbetracht dessen arbeitet die objektfokussierte Sicht radikal einfach und hochgradig energiesparend.
Manchmal allerdings verhalten sich unsere Mitmenschen (oder vielleicht sogar wir selbst uns) in einer Art und Weise, die wir ganz und gar nicht erwartet haben. Ein Mensch mit Objektfokus kommt zu dem Schluss: „Ich habe mich in ihm / ihr / mir geirrt!“ oder auch: „Er / sie hat mich getäuscht! Darum kann ich ihm / ihr nicht trauen!“ (Oder auch: „Ich kann mir selbst nicht trauen!“)
Neben den beständigen und nicht immer angenehmen Überraschungsmomenten bringt der Objektfokus einen weiteren gewichtigen Nachteil mit sich: Durch ein Beharren auf „Ich bin so, wie ich bin!“ und „Unsere Beziehung (Objekt!) ist, wie sie ist!“ behindert und verhindert das rein dreidimensionale Menschenbild Entwicklungen und kreative Lösungsmöglichkeiten auf vielen Ebenen. Insbesondere im Angesicht von Schwierigkeiten oder Konflikten führt eine solche Haltung oft dazu, dass sich die Bedingungen für eine gute Lösung der Situation eher verschlechtern.
Der objektfokussierte Mensch blickt auf die Fotos seiner Vergangenheit und wundert sich über die Veränderungen in Persönlichkeit, Werten oder Stil. Auf die Zukunft blickend ist er davon überzeugt: Seine zukünftige Version ist haargenau derselbe Mensch wie er jetzt ist, nur ein paar Jahre älter selbstverständlich. Wer den Menschen als „Objekt“ sieht, wird sich oft irren. Er übersieht, dass alles, was lebt, in stetiger Entwicklung ist.
Prozessfokus:
Der 4-dimensionale Mensch
Der prozessorientierte Mensch weiß: „Ich habe und ich bin eine Geschichte – Untrennbar verbunden mit lauter anderen Geschichten.“
Er weiß: Jeder Augenblick verändert ihn ein winziges Stück. Augenblicke vereinen sich zu Tagen, zu Jahren und Jahrzehnten.
Manche Augenblicke und Erfahrungen, das weiß er, weil er es erfahren hat, verändern sein Leben und sein „ich“ bedeutend mehr als nur ein kleines Stück. Manche Augenblicke und Erfahrungen verändern alles, was wir sind.
Die Sicht auf den Menschen als „Prozess“ beantwortet viele offene Fragen. Wir erkennen, dass die Wurzeln heutigen Verhaltens zum Teil zurückreichen bis in Vergangenheiten, zu denen es keine bewussten Erinnerungen gibt.
Allein das bewusst Erinnerbare jedoch aus unserer eigenen Geschichte oder der eines Mitmenschen macht manches, das wir im Heute erleben, verständlich oder sogar nachfühlbar. Dadurch können wir es leichter annehmen.
Auch macht die prozessfokussierte Sicht Entwicklung leichter. Da das, was ich heute bin, aus meinem Gestern entstanden ist, hat das, was ich heute sage, denke und tue, Auswirkungen darauf, wer ich morgen bin.
Menschen mit Prozessfokus fragen:
- Vor welchem Hintergrund erlebt er/sie das, was er/sie erlebt?
- Wie ist dieser Mensch zu dem geworden, der er ist?
- Was haben seine/ihre bisherigen Lebenserfahrungen mit ihm/ihr gemacht?
- Nach welcher Art von Erfahrungen sehnt er/sie sich?
- Was für ein Mensch möchte er/sie gerne werden?
Eine prozesshafte Sicht des Menschen ist eine wichtige Grundlage jedweder medizinischen, psychologischen, pädagogischen oder seelsorgerischen Arbeit. All diese Dienste begleiten und unterstützen Entwicklungen in Richtung von mehr Gesundheit, Lebendigkeit, Wirksamkeit und Bewusstheit.
Dennoch: Auch die Betrachtung des Menschen als „Prozess“ oder „Geschichte“ hat ihre liebe Not damit, wenn es darum geht, Zustände innerer Lähmung oder Zerrissenheit oder gar Akte vermeintlich offensichtlicher Selbstsabotage zu erklären.
Warum behindern wir uns so oft selbst in unserer Lebendigkeit und Entwicklung? Warum setzen wir Dinge oder Beziehungen, die wir lieben, leichtfertig auf’s Spiel? Warum handeln wir so oft auf unserem Weg augenscheinlich ausdrücklich gegen unsere eigenen Interessen?
Die Frage: „Warum tue ich (tut er / sie) das?“ ist falsch gestellt, weil sie voraussetzt, dass das „ich“, nach dem sie fragt, im Singular existiert. Die Antwort allerdings kommt im Plural. Darum verstehen wir sie nicht.
Systemfokus:
Der n-dimensionale Mensch
Der Mensch ist bereits als „ich“ ein „wir“. Die Persönlichkeit eines jeden Menschen besteht meiner Auffassung nach aus einer Vielzahl miteinander interagierender Teilpersönlichkeiten, die je nach Grad der Selbsterkenntnis und Bewusstheit eines Menschen im Inneren seiner Psyche miteinander in Kontakt, in Kooperation oder Konkurrenz stehen.
Es gibt Menschen, vermutlich sind es in unserem Land nur etwa ein halbes bis anderthalb Prozent, die sind in der Lage, sich selbst und ihre Mitmenschen als derart komplexe Systeme aus inneren Anteilen oder Kräften zu sehen.
All unser Denken, Fühlen und Verhalten ist Ausdruck der vielfach wechselwirksamen Prozesse in unserem Inneren.
Jedes einzelne Element dieses Systems „Das bin ich!“ hat eine Geschichte. Es ist zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt im „ich“ entstanden und hat sich fortan im Rahmen seiner Möglichkeiten weiter entwickelt. Jedes Element des Systems stellt also selbst einen Prozess dar. Wenn nicht gar, was noch wahrscheinlicher ist, ein eigenes System.
Wie entsteht ein solches System im Inneren unserer Psyche? Klaus-Peter Horn und Regine Brick beschreiben diesen Prozess in „Das verborgene Netzwerk der Macht“ (Gabal Verlag 2001, S. 180-181) auf folgende Weise:
„[…] Jedes neugeborene, menschliche Wesen ist einzigartig. Wenn Sie Kinder haben, werden Sie dies bestätigen können. Jedes Wesen bringt eine „Seinsqualität“ mit, die es unverwechselbar macht. […] Neben seiner Einzigartigkeit ist es jedoch auch äußerst schutzlos und verletzlich. So ist das Neugeborene für sein Überleben völlig auf Hilfe angewiesen, die natürlicherweise von Mutter und Vater kommt. Wie also entsteht in einem so winzigen Wesen eine Persönlichkeit, die sagt: „Das bin ich. So bin ich.“, „Das ist mein Charakter.“?
Weil dieses kleine Kind für sein Überleben nicht selbst sorgen kann, muss es eine Kontrollinstanz in sich entwickeln, die Hilfe von außen sicherstellt und so seine Verletzlichkeit schützt. Das ist die Geburtsstunde seiner Persönlichkeit. Diese Kontrollinstanz hat die Aufgabe eines inneren „Beschützers/Bewachers“. Die Eigenschaften dieses ersten Teilselbstes, auch Teilpersönlichkeit oder innere Person genannt, können sehr unterschiedlich sein. Sie sind abhängig von Kultur und Land sowie den Lebensumständen, Werten und Normen der Familie, in die es hineingeboren wird. Die wichtigste Aufgabe dieses ersten Teilselbstes ist es, mit allen Mitteln das Überleben sicher zu stellen.
Es bedient sich dazu verschiedener „Helfer“, die sich in Anpassung an die jeweiligen Umstände, unter denen das Kind aufwächst, als weitere Teilpersönlichkeiten entwickeln. […]“
Menschen mit Systemfokus fragen:
- Mit welchem Teil in mir/dir habe ich es gerade zu tun?
- Was wünscht sich oder fürchtet dieser Teil in mir/dir gerade?
- Welche weiteren Stimmen gibt es hierzu in mir/dir?
- Was genau sagen diese Stimmen?
Welche Erfahrungen, Ängste oder Wünsche kommen dadurch zum Ausdruck? - Welche unterschiedlichen Meinungen, Gefühle oder Impulse kommen mir/dir gerade in den Sinn?
Hinter all den lauten und leisen Stimmen, Meinungen , Gefühlen und Impulsen all unserer verschiedenen Persönlichkeitsanteile liegt unser “selbst”. Auf der Ebene dieser innersten all unserer psychischen Instanzen ist alles Leben nichts als Wahrnehmen, Fokussieren und Entscheiden.
Ein Teil der Wahrnehmungen unseres „selbstes“ stammt aus der Welt da draußen: Das Geräusch des Windes in den Bäumen oder das Streiten der Kinder, die Augen des Liebsten oder das Unterhaltungsangebot auf Netflix, die Empfindungen auf unserer Haut oder der Duft in unserer Nase.
Ein nicht unbedeutend großer anderer Teil der Information jedoch, die unser „selbst“ beständig erhält und verarbeitet, stammt aus unserer eigenen Innenwelt, aus unserem „ich“. Hierzu zählen die unzähligen Gedanken, die in Form eines beständigen Flusses aus Worten oder Bildern in unserer Aufmerksamkeit kurz aufpoppen und dann wieder verschwinden. Zu den Kommunikationswegen in unserem System zählen außerdem Körpersymptome wie Wärme oder Kälte, Weite oder Druck, Herzschlag, Atmung usw..
Manche Gedanken oder Empfindungen poppen auf und verschwinden gleich wieder. Manche Gedanken oder Empfindungen gehen nicht so leicht wieder weg. Manche Gedanken haben geradezu massive Auswirkungen auf unser gesamts System. Sie verändern unser Denken und Fühlen, unsere Körperhaltung und Mimik, unsere Stimme, unsere Atmung, unsere Aufmerksamkeit, unsere Erinnerungen und nicht zuletzt unser Verhalten.
Außenstehende sagen dann, wir wären „wie ausgetauscht“. Natürlich sind wir das nicht. Und doch liegt diese Beobachtung in meinen Augen ganz nah dran an der Wahrheit: Ein anderer Teil in uns als gerade noch hat aktuell das Ruder übernommen und steuert damit nun unseren Körper und das Schiff, das wir „ich“ nennen.
Ich behaupte: Das, was wir im Psycho-Jargon leichtfertig als unser „Unterbewusstes“ bezeichnen, wobei wir gerne einen sphärischen Klang in unsere Stimme legen, ist weder so undurchsichtig noch so unerklärlich, wie es die verbreitete Laien- und Küchenpsychologie suggeriert.
Wer den Begriff des inneren Systems nicht nur als eine gefällige Coaching-Metapher verwendet, sondern konsequent durchleuchtet, kann lernen, sich des schillernden Systems in seinem Inneren nicht nur wirklich gewahr zu werden und es in Echtzeit zu beobachten, sondern aktiv und bewusst auf dieses System einzuwirken.
Wer gelernt hat, aus der Position des „selbstes“ heraus mit den unterschiedlichen Anteilen seiner Persönlichkeit in ein offenes Gespräch zu treten, erlangt dadurch mit der Zeit immer mehr bewussten Zugriff auf seine Psyche und hierdurch weit vielfältigere Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit sich selbst, den Mitmenschen und dem Leben als zuvor.
Die aus dieser Erfahrungsqualität im Umgang mit uns selbst entstehende Selbst-Bewusstheit ist meiner Erfahrung nach der zentrale Schlüssel zu innerer Harmonie, Klarheit und Integrität. Je besser wir die in unserem Inneren wirksamen Persönlichkeitsanteile kennen lernen, desto wahrscheinlicher werden wir erkennen, dass jeder dieser Anteile allein darum existiert, um uns dabei zu helfen, auf die täglichen Herausforderungen und Fragen des Lebens eine gute, stimmige und hilfreiche Antwort zu finden.
Aus der Perspektive des Systems betrachtet lösen sich die Widersprüche auf. Erfolg oder Entspannung? Geld oder Liebe? Jens oder Jan? Wenn wir den vielfältigen Stimmen in uns wirklich lauschen, lautet die Antwort allzu oft eben nicht „Entweder-Oder“, sondern „Sowohl-Als-Auch“! Ein Teil in uns will das eine. Ein anderer Teil in uns plädiert für die Alternative. Das ist weder gut noch schlecht, sondern vor allem interessant. Oder nicht?
Diese Haltung der Neugier auf uns selbst kann der Beginn sein für eine vollkommen neue Art von Beziehung mit uns selbst (und Anderen!). Erstes Zeichen für diese neue Art des Umgangs (mit uns selbst und Anderen) ist, dass wir beginnen, neue Fragen zu stellen. Wir erkennen nämlich, dass die Frage „Will ich dies oder das?!“ auf einer falschen Annahme beruht. Nämlich: Ich will eines von beidem und muss nur herausfinden, welches es ist… Daher wird uns diese Frage leider geradezu zwingend in die Irre führen.
Die Fragen, die aus dieser Perspektive auf uns selbst (und Andere) heraus entstehen, sind komplizierter als das alte „Was will ich (eigentlich oder wirklich)?“ Sie erfordern mehr Information, mehr Aufmerksamkeit, mehr Mitgefühl (mit uns selbst und Anderen).
Zugegeben: All das kostet immer wieder eine ganze Menge an Energie, Aufmerksamkeit und Zeit. Diese Sicht auf den Menschen braucht ein hohes Maß an Bewusstheit und die Bereitschaft zum Annehmen oder Aushalten unterschiedlicher Impulse, Werte, Wünsche oder Gefühle.
Die Antworten jedoch, die wir erhalten, wenn wir den Mut haben, uns der großen Gleichzeitigkeit eines Lebens im schillernden Vollbesitz einer menschlichen Psyche zu stellen, legen das Fundament für eine vollkommen neue Art der Beziehung und der Kooperation mit uns selbst, unseren Mitmenschen und dem Leben an sich. Wir begegnen uns, zeigen uns und verhandeln miteinander, mit uns selbst und dem Leben, auf einer neuen Basis der Aufrichtigkeit, Selbstbewusstheit und Integrität.
Dieses neue Bild des Menschen versetzt uns wie keines der vorhergegangenen Modelle in die Lage, die Tiefe, Weite und Vielfalt in uns selbst und unseren Mitmenschen zu erkennen, zu achten und mit etwas Übung sogar ein bisschen: zu lieben.
Wer den Menschen als System erkennt, wird sich selbst und seinem Gegenüber auf neue Art begegnen. Dieses „neu“ ist gekennzeichnet durch ein Mehr an Selbstvertrauen und Respekt, an Gelassenheit und Mitgefühl, an Präsenz und Wirksamkeit.
Diese Qualitäten in Menschen zu stärken, ist Teil meiner Arbeit als Coach, als Therapeut und Mentor.
Eine ausgiebigere Beschreibung dessen, was ich für die innere Struktur unseres Systems „Psyche“ halte, findest du in diesem Blog unter der Überschrift:
Wer ist „ich“…?! („Der fliegende Holländer“)
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