Die 5 Stufen unserer sexuellen Reifung

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Die 5 Stufen unserer sexuellen Reifung

Oder: Was stelle ich mir persönlich eigentlich unter einer gesunden Sexualentwicklung vor?

„Aufmerksamkeit und nicht Willenskraft
ist der Schlüssel, um eine persönliche
Fähigkeit zu erwerben.“

Moshé Feldenkrais (1904 – 1984)

Wer sich ernsthaft mit unserer menschlichen Sexualität auseinandersetzt, der/die entdeckt über kurz oder lang, wie nachhaltig und bedeutsam die Auswirkungen unserer als glücklich, fade oder gar schmerzhaft erlebten Sexualität auf nahezu alle bedeutsamen Facetten unseres Lebens sind. Im vergangenen Jahr veröffentlichte ich das, was meine wissenschaftlichen Recherchen in Bezug auf diese Frage ergaben, in einem kleinen Büchlein. Es trägt den bissigen Titel „untervögelt – Macht zu wenig (guter!) Sex uns hässlich, krank und dumm?!“ und hat seither scheinbar schon einigen Menschen zu großer Freude oder auch zu interessanten Einsichten verholfen.

In Anbetracht dessen, was sexuelle Lust und Wonne an Glücksempfindungen, Immunstärkung und regelrechten Energieschüben auszulösen in der Lage sind, dümpelt das Sexualleben der Allermeisten von uns offenbar auf einem bemerkenswert flachem Niveau vor sich hin. Ich frage mich: Könnte es sein, dass ein nennenswerter Anteil aller erwachsenen Menschen in unserem Lande auf die Möglichkeit verzichtet, sich selbst in ihrer eigenen Sexualität und Sinnlichkeit wirklich zu nähren und aufzuladen? Und wenn ja, wie kommt das…?!

Wie kommt es dazu, dass offenbar so viele Menschen all die Kraft und Herrlichkeit, die sie in ihrer Sexualität erfahren und entfalten könnten, derart vertrocknen und verkümmern lassen…?! Die Frage ließ mich nicht los. Selbst wenn sie persönlich möglicherweise bislang nur eher dilletantische oder gar lausige Erfahrungen in ihrer Sexualität gemacht hatten (oder sogar körperliche oder psychische Gewalt erfahren mussten) – wie kommt es, dass sie das Mehr, das ihnen physisch wie psychisch zu erfahren definitiv möglich ist, nicht für möglich halten, geschweige denn für wünschens- oder gar erstrebenswert…?!

Der Schlüssel, der mir zu diesem Verständnis fehlte, wurde mir im November 2019 auf dem Sexpositive Weekend and Fundraising Ball von der wundervollen Janie Petersen übergeben. Sie selbst hatte ihn erhalten von ihrer Lehrerin Layla Martin, die das Modell, das ich nachfolgend in meiner Lesart schildern möchte, offenbar als erste ersann.

Sexualität als physiopsychischer Entwicklungsweg

„Ich bin aus eigener Erfahrung durch
Beobachtungen an mir und anderen
zur Überzeugung gekommen, dass
die Sexualität der Mittelpunkt ist,
um den herum das gesamte soziale
Leben wie die innere Geisteswelt
des einzelnen […] sich abspielen..“

Wilhelm Reich (1897 – 1957)

Bis heute betrachten viele Menschen die Entwicklung unserer Sexualität als einen vorrangig körperlichen Reifungsprozess. Glauben wir dieser Sichtweise, dann ist unsere sexuelle Entwicklung mit dem Sprießen von Brüsten, Penis und Körperbehaarung im Grunde abgeschlossen. Was danach folgt, ist in den Augen der meisten scheinbar nicht viel mehr als ein bisschen Feindesign in Sachen Vorlieben, Kenntnisse oder Spielarten. Meine persönliche Lebenserfahrung ist da eine ganz andere. Und jene der Menschen, die mit mir offen über dieses Thema sprechen, auch.

Die Entwicklung unserer Sexualität ist nur zum Teil eine körperliche. Ich bin aus persönlicher wie professioneller Erfahrung heraus davon überzeugt, dass unsere Psyche in Hinblick auf sexuelle Fülle oder Ödnis eine bedeutend größere Rolle spielt als die genetische Ausstattung, die wir in unseren Körpern mit uns herumtragen. Hardwaretechnisch gibt es zwar durchaus einen gewissen Schwung unterschiedlicher Genausstattungen in allerlei Hinsicht. Was wir jedoch aus dieser Hardware rauszuholen in der Lage sind, ist abhängig von der Software, die wir benutzen. In Sachen Sexualität bedeutet das: unseren Gedanken, Gefühlen und Impulsen, unseren Sehnsüchten, Neugierden und Entscheidungen, unserem Selbstbild und unserem Verständnis körperlich oder emotional intimer Beziehungen.

Janie beschrieb mir den Prozess unserer sexuellen Reifung als ein Aufeinanderfolgen von fünf substanziellen Entwicklungsstufen. Jede dieser Stufen verändert unseren Blick auf uns selbst und unsere Sexualität auf radikale Weise. Jede dieser Stufen geht einher mit Erfahrungen substanzieller Sebstkonfrontation, Selbstbegegnung und bestenfalls schließlich Selbstannahme.

Ich übersetze dieses Modell im Folgenden in die deutsche Sprache und stelle es in den Kontext meiner persönlichen Erfahrungen sowie meiner professionellen Sicht auf die Struktur unserer psychischen Entwicklung.

Die Namen dieser fünf Stufen lauten „Unbedarfte Sexualität“ („innocence“), „Verspielte Sexualität“ („playfulness“), „Ehrung der eigenen erotischen Essenz“ („honoring“), „Forschende Sexualität“ („exploring“, bzw. bei Layla: „Sich ausdehnende Sexualität“/ „expansion“) und schließlich Heilige Sexualität“ („sacredness“).

Der traurige Zustand vieler Sexualleben in unserem Lande beruht in meinen Augen nicht selten zum größten Teil darauf, dass dieser natürliche Entwicklungsweg auf einer dieser fünf Stufen unterbrochen und seither niemals fortgesetzt wurde. Und dies nicht nur von einer der beteiligten Parteien, sondern von beiden oder allen.

Ich sehe in dieser Erkenntnis keinen Anlass für Schuldzuschreibungen, Groll oder Gram und schon gar nicht für Resignation, sondern ganz im Gegenteil dazu eine Perspektive, die uns einlädt, uns aufzumachen für unseren eigenen Entwicklungsweg ebenso wie den unserer Liebsten (d|w|m). Sie lädt uns ein, uns selbst wie auch einander wirklich und wahrhaftig anzunehmen, in all unserer Größe und all unserer Verletzlichkeit, und auf dieser Basis jenen Weg fortzusetzen, von dem wir vor Jahren oder gar Jahrzehnten von äußeren Kräften abgelenkt wurden.

Es juckt mich in den Fingern, zu schreiben: Mehr braucht es gar nicht!

Eine Frage der Perspektive

„Wir sehen im allgemeinen die Welt so,
wie wir gelernt haben, wie sie sein soll.“

Gerhard Roth

Unsere sexuelle Entwicklung ist ein körperlich, emotional und mental wechselwirksamer Prozess, in dem wir Erfahrungen mit uns selbst, mit Anderen und mit dem Phänomen Lust machen Auf diese Weise erwerben wir im Laufe unserer sexuellen Erfahrungen immer neues Wissen, neue Kenntnisse und Fähigkeiten. Diese Erfahrungen, Kenntnisse oder Fähigkeiten aber sind kein Selbstzweck. Sie dienen unserer sexuellen Selbstwerdung und Bewusstheit.

Diese wachsende Bewusstheit im Umgang mit uns selbst, unseren Liebesgefährt*innen und der Lust ist es, die uns im Laufe unserer sexuellen Reifung Schritt für Schritt zu immer selbstbewussteren, empathischeren und kundigeren Liebes- und Sexualpartnern heranreifen lässt.

Viele von uns nehmen den Verlauf der eigenen sexuellen Entwicklung als „normal“ (oder gar „alternativlos“) an. Dabei erliegen sie dem Irrtum, zu glauben, das Wort „normal“ wäre ein Synonym für „natürlich“. Daher kommen sie gar nicht auf die Idee, dass eine offenere, selbstbewusstere und erfülltere Sexualität als die, die sie für „normal“ halten, überhaupt möglich sein könnte, ganz zu schweigen von „natürlich“. Dabei ist das, was sie selbst kennen, meinem Menschenbild nach weder „normal“ oder sogar „natürlich“ sondern schlicht und einfach „gewöhnlich“ – im Sinne von „weit verbreitet“. Also eben nicht: So schön und nährend wie irgend möglich. Sondern: So, wie es halt die anderen auch tun.

Ich werde in den folgenden Absätzen skizzieren, wie meines Erachtens nach ein „natürlicher“ und „gesunder“ Ablauf einer menschlichen Sexualentwicklung grundlegend ablaufen könnte. Es wird schnell deutlich werden, dass der Entwicklungsverlauf, wie ich ihn hier beschreibe, in unserem Lande bislang nicht gerade gelebte Leitkultur ist.

Viele von uns glauben, der Beginn unseres sexuellen Entwicklungsweges läge in unserer Jugend, wenn unsere Körper von Sexualhormonen geradezu überschwemmt werden. In der Tat beginnt die Entwicklung unserer Sexualität sondern bereits bedeutend früher.

Wir sehen: Der Beginn unserer menschlichen Reise ist gleichzeitig der Beginn unserer Entwicklung als sexuelle Wesen.

Wer sich vorab ein paar wissenschaftliche Details unserer sexuellen Entwicklung gönnen möchte, findet auf der Website der Freien Universität Berlin unter der Überschrift „(Psycho-)Sexuelle Entwicklung im Kindes- und Jugendalter“ eine beachtliche Aufstellung medizinischer, biologischer und psychologischer Fakten zum Thema.

Stufe 1: „Unbedarfte Sexualität“
(engl.: „innocence“)

„Unschuld ist der Weisheit gleich.“

Euripides (480 – 406 v.u.Z)

Wir werden gezeugt, geboren und schließlich wachsen wir hinein in unseren Körper und die Welt. Über Foeten beiderlei Geschlechts wissen wir unter anderem, dass sie bereits im Mutterleib ihre ersten Erektionen (Penis- bzw. Klitorisschwellungen) erleben. Auch ist bekannt, dass unsere Erfahrungen während Schwangerschaft und Geburt nachhaltige Auswirkungen haben auf unsere weitere physiologische, emotionale und damit schließlich auch sexuelle Entwicklung.

„Erinnern“ wir uns daher einen Augenblick lang daran, wie wir selbst vor vielen Jahren diese Welt betreten haben: Offen, vertrauensvoll und unbedarft blickten wir in diese Welt. Die unbedarftheite Freiheit dieser ersten Atemzüge hat uns tief in unserem Inneren bis heute nie verlassen. Diese Kraft wieder freizulegen, ist ein wichtiger Schritt hin zur Entwicklung unserer individuellen und wahrhaft eigenen Sexualität.

Wir wachsen heran und erfahren unseren Körper. Wir lernen laufen, springen, werfen, klettern, kriechen, schleichen, kämpfen, tanzen, sprechen, singen, malen, und und und…! Wir können sehen und hören, schmecken und riechen. Und wir können tasten. Dabei stellen wir über kurz über lang fest, dass es an uns Körperpartien gibt, die sich ganz besonders kitzelig oder schön anfühlen, wenn wir sie berühren. Darum berühren wir sie. Weil es sich schön anfühlt. Danach malen wir weiter. Oder spielen. Oder streiten. Oder was sonst gerade wichtig ist. Die unbedarfte Sexualität lebt allein im Augenblick.

Zwar stellen wir fest, dass es Jungs und Mädchen gibt – und mit ein wenig Glück vielleicht kennen wir sogar noch ein paar Kinder oder Erwachsene, die irgendwie beides oder etwas dazwischen sind, aber das hat für uns keine größere Bedeutung als die Farbe der Haut, der Haare oder der Augen. So sind wir Menschen halt: alle ein bisschen verschieden.

Unser Spiel mit uns selbst und auch miteinander enthält zwar durchaus eine gewisse, subtile Erotik, aber noch keine „sexuelle Substanz“. Wir erkunden die Welt, uns selbst und einander. Dazu gehört auch, zu bemerken, dass sich manche Teile von uns irgendwie besonders anfühlen, wenn wir sie berühren. Und zwar: besonders schön.

Unsere Eltern beobachten wohlwollend unser neugieriges Interesse. Die meisten unserer Fragen beantworten sie uns mit Leichtigkeit und mit Humor. So lernen wir von kleinauf, dass unser Körper etwas Schönes ist. Etwas, das wir erforschen und liebhaben dürfen und das uns ganz, ganz schöne Erfahrungen und Empfindungen schenken kann. Wir sind zwar nicht ständig, aber doch immer wieder mal umgeben von natürlicher Nacktheit. Daran erkennen wir, wie vielfältig unsere Körper sind, und darüber hinaus, dass die Schönheit eines Menschen nur ziemlich wenig mit seiner körperlichen Erscheinung zu tun hat.

Da die Gefühle von Lust und Sinnlichkeit, die wir später im Leben erfahren werden, immer auch eine emotionale Öffnung mit sich bringen, ist die emotionale Entwicklung eine bedeutende Vorstufe unserer sexuellen Entwicklung. In unserer Kindheit lernen wir (insbesondere) von unseren Eltern und an unseren Eltern, wie wir unsere Gefühle, Wünsche und Grenzen ebenso lieben und annehmen können wie die Gefühle, Wünsche und Grenzen unserer Mitmenschen.

Unsere Eltern, aber auch befreundete Erwachsene, sind uns ein lebendiges Vorbild darin, innere wie äußere Konflikten in Achtung und Selbstachtung zu begegnen. Wir lernen, für uns selbst einzutreten und gleichzeitig das Wohl aller beteiligten Anderen im Blick zu haben. Wir lernen bereits als Kinder, dass die besten Lösungen in jedem Konflikt jene sind, in denen alle gewinnen. All dies sind indirekte, aber substanziell bedeutsame Bausteine unserer späteren Sexualentwicklung.

So lernen wir uns selbst und unseren Körper kennen und lieben. Wir mögen uns selbst und tragen in uns die Erlaubnis und Selbstfürsorge dafür, uns selbst schöne Empfindungen und Erfahrungen zu schenken. Auf diese Weise sind wir gut vorbereitet und ausgestattet, wenn wir im Alter von etwa 12 bis 15 hinübergleiten oder auch -stolpern in die Zeit, die wir die „Pubertät“ nennen.

Lernerfahrungen in der Phase der unbedarften Sexualität:

Ich bin gut, wie ich bin.
Mein Körper ist gut, wie er ist.
Meine Gefühle sind gut, wie sie sind.
Ich bin wichtig.
Es ist wichtig, dass es mir gut geht.
Es ist wichtig, dass es den Anderen gut geht.

Stufe 2: „Verspielte Sexualität“
(engl.: „playfulness“)

„Jugend ist wie ein Most.
Der lässt sich nicht halten.
Er muss vergären und überlaufen.“

Martin Luther (1483 – 1546)

Wir erreichen die Pubertät. Unser Körper verändert sich, und auch unsere Psyche verändert sich. Dabei ist wohl nur schwer zu sagen, welches von beiden die radikalere Transformation durchmacht. Hinter all dem steht ein atemberaubender Umbauprozess in unserem Gehirn, der noch bis über unseren 20. Geburtstag hinaus andauern wird. Die Produktion unserer Sexualhormone wird angekurbelt. Die schönen Gefühle in unserem Unterleib gewinnen an Intensität und Tiefe. Wir erfahren zum ersten Male die unignorierbare Wucht der Wollust.

Wir beginnen, uns bewusst Räume in unserem Leben dafür zu reservieren, uns selbst sexuelle Lust zu bereiten. Zwar ziehen wir uns dafür vor den Blicken Unbeteiligter zurück, aber wir machen kein Geheimnis aus der Tatsache an sich. Dadurch erfahren wir, dass auch unsere erwachsenen Begleiter (familiäres und vertrautes soziales Umfeld) offen und selbstverständlich mit dem Thema „Sinnlichkeit und Lust“ umgehen. Wir haben vertraute Vorbilder oder Mentoren, die wir fragen können, wenn uns etwas rätselhaft oder seltsam erscheint. Auf Augenhöhe teilen sie ihre Erfahrungen mit uns, geben uns Rat, Halt oder Trost.

In dieser Phase beginnen auch unsere ersten sexuellen Erfahrungen mit anderen Menschen. Wir fühlen uns auf eine Art und Weise angezogen, die alles zuvor Erfahrene in den Schatten stellt. In uns entsteht eine innere Lust darauf, andere Menschen zu berühren und uns von ihnen berühren zu lassen. Allerdings stellen wir auch fest, dass diese Art von Begehren für uns bei weitem nicht mit allen Individuen des anderen oder desselben Geschlechts verbunden ist. Wir entdecken, dass wir Vorlieben haben, teils physischer, teils psychischer Natur.

Wir machen unsere ersten Erfahrungen im Werben. Noch ein wenig unbeholfen zwar, aber doch von Zeit zu Zeit erfolgreich. Wir küssen und streicheln. Und schließlich bald oder später entscheiden wir uns für einen Menschen, von dem wir uns einführen lassen wollen in die ganze Fülle der Lust.

Vielleicht wählen wir uns für diese Erfahrung einen Menschen, der bereits mehr Erfahrung hat als wir selbst, weil es am Anfang bekanntermaßen schon ein wenig Führung braucht. Das, was die Lust uns fühlen und erfahren lässt, kann schließlich überwältigend intensiv sein. Da ist es hilfreich, zu wissen, dass die Hand, die wir während unserer ersten Erfahrungen im Feld der Lust halten, sehr genau weiß, was sie tut. Vielleicht aber auch wählen wir uns für diese ersten Schritte einen Menschen, der im Spiel mit der Lust noch ebenso unerfahren ist wie wir selbst. Damit es unsere gemeinsamen Erfahrungsreisen werden, wodurch diese Erfahrung gleichzeitig unsere Verbundenheit und Liebe vertieft und nährt.

Unser Umgang mit Sinnlichkeit und Lust gleicht zwar noch eher einem Stolpern als einem Tanzen, aber wir erfahren uns in dieser Phase als geliebt und begehrt, als beschenkt und beschenkend.

Wir lassen uns aufmerksam die Grundregeln der Vermehrung von Menschen sowie der Verbreitung von Bakterien erklären. Überdies kennen wir uns mit den Grundregeln des sexuellen Konsens aus. Unsere Gespräche mit Eltern und anderen Vertrauenspersonen helfen uns dabei, Intimität als einen sensiblen kokreativen Raum zu erfahren, dessen Geschenk allein darin besteht, allen Beteiligten ein möglichst hohes Maß an Freude und Wonne zu bescheren.

Wir lernen, dass es möglich ist, auf unserem eigenen Körper sowie auf den Körpern unserer sexuellen Entwicklungsgefährt*innen zu spielen wie auf einem Instrument. Etwas grobfingrig zwar noch in der einen oder anderen Hinsicht (und nicht zuletzt in wörtlichem Sinne), aber dafür mit umso mehr Freude und Elan am Start.

Und dann, plötzlich, macht es BÄM…

Lernerfahrungen in der Phase der verspielten Sexualität:

Ich werde geliebt.
Ich bin schön.
Ich werde geachtet und sexuell begehrt.
Aufrichtigkeit macht Vertrauen möglich.
Vertrauen macht Verbundenheit möglich.
Verbundenheit macht Hingabe möglich.
Hingabe macht Intensität möglich.
Ich kann und darf mit allen Sinnen genießen.
Meine Liebesbeziehungen sind Quellen der Freude und Kraft.
Ich bin meinen Liebespartner*innen ein Quell der Freude und Kraft.
Sex macht Spaß und tut gut.

 

Stufe 3: „Ehrung der eigenen erotischen Essenz“
(engl.: „honoring“)

„Als ich mich selbst zu lieben begann, befreite ich mich
von allem, was nicht gut für meine Gesundheit ist,
von Speisen, Menschen, Dingen, Situationen und von
allem, das mich hinunter zog und weg von mir selbst.
Anfangs nannte ich diese Haltung gesunden Egoismus.
Heute weiß ich, das bedeutet Selbstliebe.“

Charles Spencer Chaplin (1889 – 1977)

Vielleicht können wir es selbst gar nicht in Worte fassen. Vielleicht ist uns selbst überhaupt nicht klar, dass etwas Besonderes geschehen wäre, oder wie genau das vonstatten ging. Aber: Unsere Sexualität ist von diesem Zeitpunkt an nicht mehr dieselbe wie zuvor.

Was ist passiert…?!

Irgendwann in unserem heiteren Spiel mit einander und uns selbst haben unsere Lust und unser Begehren eine neue Tiefe erfahren. Der genaue Augenblick lässt sich im Nachhinein häufig nicht bestimmen. Oft wird dieser Phasensprung als ein länger andauernder Prozess beschrieben, in dem es irgendwann plötzlich „klick“ machte. Und sie im Zustand tiefster Lust und fundamentalster Nacktheit auf einmal sich selbst begegneten…

Dies ist die Stufe der sexuellen Selbstehrung, in der wir uns selbst, so wie wir sind, ebenso wie unsere sexuellen Vorlieben oder Sehnsüchte, Ängste oder Gelüste, ganz und gar annehmen und lieben lernen. Mit allem, was wir sind. Manches von dem, was wir vorher taten oder mit uns tun ließen, erscheint uns auf einmal so gar nicht mehr wiederholenswert. Anderes, das vorher geradezu undenkbar schien, bekommt plötzlich einen unignorierbar interessanten Glanz.

Unser Spiel mit den Kräften der Lust hat uns mit Tiefen in uns selbst konfrontiert, die wir zuvor nicht kannten, vielleicht gar nicht für möglich hielten. Wir haben nicht nur Freude empfunden, sondern bebende Wogen aus erotischer Wonne, die uns bis in die Haar- und Fingerspitzen elektrisierten, die uns erfüllten mit einer Allverbundenheit, die sich geradezu überirdisch anfühlte – oder sogar irgendwie ein kleines bisschen „heilig“…?! Aber natürlich nicht ganz…! Oder doch…?!?

Vom Augenblick der Selbstehrung an nimmt unsere sexuelle Entwicklung einen neuen Kurs. Oder besser: Von hier an geben wir ihr erstmals selbst so etwas wie einen Kurs. Wir haben eine Spur von dem erlebt, was an Tiefe und Weite, Selbstverbundenheit und Allverbundenheit zu erfahren und zu empfinden möglich ist. Davon wollen wir mehr!

In der Phase der Selbstehrung werden unsere Ansprüche an Liebes- und Sexualpartner nicht zwingend höher, aber manche von ihnen werden schlagartig bedeutend klarer. Dieser innere Wertewandel kommt zum Ausdruck in einem bösen Sprichwort, das besagt:

„Sex ist ein bisschen wie Schach.
Irgendwann spielt man halt
nicht mehr mit Anfängern.“

Dieses Sprichwort hat einen wunderschönen Kern, der jedoch auf den ersten Blick nicht in’s Auge fällt. Daher habe ich damit begonnen, dieses Sprichtwort in meiner eigenen Fassug zu zitieren. Und die geht so:

„Sex ist ein bisschen wie Schach.
Je erfahrener die Spieler*innen,
desto länger und spannender
werden die Partien.“

Ganz von allein gleiten wir hinüber von der Stufe der Ehrung auf die Stufe der Forschenden Sexualität.

Lernerfahrungen in der Phase der sexuellen Selbstehrung:

Ich liebe mich selbst und alles, was ich bin.
Ich selbst bin König/Königin meines Lebens.
Ich habe das Geburtsrecht auf eine als erfüllt und erfüllend erfahrene Sexualität.
Meine Lust ist ein Geschenk für mich und andere.
Mein Körper ist ein Instrument, auf dem ich zu spielen weiß.
Die Körper meiner Liebespartner*innen sind Insrumente, auf denen ich ebenso spielen lernen kann.
Sexuelle Begegnungen mit anderen Menschen sind Räume der Wahrhaftigkeit, der Verbundenheit und echten, tiefen Glücks.
Meine Sexualität hält Schätze für mich bereit, von denen ich zum Teil bis jetzt noch gar nichts ahne.
Ich kann mit allem umgehen, was mir geschieht.

Stufe 4: „Forschende Sexualität“
(engl.: „exploring“ bzw. „expanding“)

„Sex ist nur schmutzig, wenn
er richtig gemacht wird.“

Woody Allen (*1935)

Auf die Schnelle betrachtet könnte die Phase des Erforschens fast wirken wie eine bloße Neuauflage der Stufe der Verspieltheit – nur halt ergänzt um ein paar neue Features oder Optionen. Auf den näheren Blick hin ist weit mehr passiert.

Wer erfahren hat, dass er oder sie Zugang zu sexuellen Genüssen hat, die sich nicht nur erzeugen oder verhindern lassen, sondern überdies sehr fein justieren und kalibrieren, der oder die wird infiziert von der Idee, dieses Instrument seiner oder ihrer Lust, das ihn oder sie ohnehin für den Rest des Lebens begleiten wird, wirklich virtuos spielen zu lernen.

Wer erkannt hat, wie wertvoll und darüber hinaus ausbaufähig die eigenen sexuellen Empfindungen sind, der wird auch den sexuellen und anderen Empfindungen seiner Liebespartner mit Wohlwollen und Empathie begegnen. Wer sich selbst als Kapitän oder Kapitänin des eigenen Lebens erfahren hat, wird keine Angst mehr davor haben, emotional in stürmische See zu geraten. Dies gibt uns eine Bodenhaftung, die uns (illustrerweise) erlaubt, uns wirklich und wahrhaft in den Strom gemeinsamer oder auch unserer allein-eigenen Lust fallen zu lassen.

Im Gegensatz zum unerfahrenen Herumtapsen der sexuellen Verspieltheit wissen wir nun, wonach wir suchen. Darüber hinaus sind wir inzwischen so vertraut mit uns selbst, dass wir uns selbst und unseren Sexualpartnern gegenüber selbstbewusst und gleichzeitig liebevoll eintreten für unsere Wünsche, unsere Sehnsüchte oder Ideen. Seit wir gelernt haben, uns selbst zu lieben und zu ehren, sind irrationale Schamgefühle glücklicherweise passé. Endlich haben wir die Erlaubnis, unsere Segel wirklich in den Wind zu stellen. Handbremse adé!

Mehr und mehr lernen wir, in unserer eigenen Lust und der unserer Sexualpartner*innen zu manövrieren, Wellen zu erzeugen, zu halten, sanft ausklingen oder abrupt den Kurs ändern zu lassen. Unsere erotischen Begegnungen werden immer mehr zu ausgedehnten „Sessions“, die unterschiedlichste Verläufe nehmen können. Hierbei spielen wir bewusst mit eben jenen Reizen, die wir als unserer eigenen Lust und/oder der Lust unserer Partner*innen zuträglich erfahren haben. Wir überspitzen oder verzerren sie. Wir spielen mit diesen Reizen, weil wir erfahren haben, dass es möglich ist, uns selbst in der Klimax unserer Lust in höchster Liebe zu begegnen.

Auf der Stufe der Erforschenden Sexualität öffnen wir uns immer weiter, immer freier. Wir greifen mit ganzer Hand in den Honigtopf der süßen Un-Verschämtheiten. Hierdurch machen wir immer wieder neue, ungeahnte Erfahrungen der Lust. Wir lernen, dass Wahrhaftigkeit und nicht nur verletzlich macht, sondern uns darüber hinaus Erfahrungen tiefen Glücks beschert. Mehr und mehr werden unsere Erfahrungen der Lust zu intensiven Selbsterfahrungserlebnissen.

Anmerkung: Layla nennt diese Stufe unserer sexuellen Entwicklung nicht „exploring“, sondern „expansion“, weil wir in ihr unsere sexuellen Möglichkeiten und Vorlieben ausloten und dadurch erweitern. Da sich jedoch unser Möglichkeits- und Handlungsspektrum auf jeder der fünf Stufen erweitert und ausdehnt, habe ich mich entschieden, diese Phase nicht mit dem Begriff „Ausdehnung“ („expansion“), sondern durch das Wort „forschend“ („exploring“) zu beschreiben.

Irgendwann, schließlich, wird uns klar, dass die Fülle und Freude, die wir in einer sexuellen Begegnung empfinden, direkt gekoppelt ist an die Offenheit und Verletzlichkeit, mit der wir uns selbst in diese Begegnung hineingeben. Vom Zeitpunkt dieser Erkenntnis an bekommt unsere Sexualität ein Element, das Layla als „sacred“ bezeichnet. Und auch ich finde keinen schönen Begriff für diese Endstufe unserer sexuellen Reifung als „heilige Sexualität“.

Lernerfahrungen in der Phase der Forschenden Sexualität

Meine Sexualität ist ein bedeutsamer Aspekt meiner Selbsterfahrung in diesem Leben.
Ich mag mich selbst und die Art, wie ich meine Sexualität lebe, richtig gerne.
Ich weiß, wie ich meine eigene Lust und die meiner Partner fein justiert bedienen und bespielen kann. Und ich nutze dieses Wissen schamlos „zur Mehrung des Glücks in der Welt“.
Ich weiß, wie ich elegant für meine Grenzen, Wünsche und Ideen eintrete.
Mein Körper kennt ein paar wirklich abgefahrene Tricks.

Stufe 5: „Heilige Sexualität“
(engl.: „sacredness“)

„Dein Körper ist die Kirche, in der
die Natur um Verehrung bittet.“

Donatien Alphonse François de Sade (1740 – 1814)

Wie lässt sich das beschreiben, was Layla, Janie und ich als Höhepunkt und Ziel unserer sexuellen Entwicklung unter den Begriff heilige Sexualität fassen…?!

Bedeutet heilige Sexualität, dass sich unsere sexuellen Begegnungen von nun an immer in tantrischer Langsamkeit und Zartheit vollziehen? Ganz bestimmt nicht! Bedeutet es Kerzen, Weihrauch und Mantrengesang? Nichts als Deko. Wer’s mag…

Was bedeutet heilige Sexualität dann?!

Was ich unter heiliger Sexualität verstehe, hat nur wenig damit zu tun, was wir miteinander tun, umso mehr jedoch damit, welche Haltung sich in unseren Worten und Taten zum Ausdruck bringt.

Eine tantrische Massage kann erfüllt sein von Heiligkeit. Oder Mittel zum Zweck. Zu welchem auch immer. Dasselbe gilt 1:1 für eine Hardcore-SM-Begegnung. Oder für einen erotischen Tanz zu dritt. Oder für den Sex mit uns selbst. All dies kann heilig sein – oder profan. Was genau macht dann den Unterschied aus?

Auf dieser letzten Stufe unserer sexuellen Entwicklung haben wir so viel über uns selbst gelernt, dass wir uns selbst wirklich ganz und gar annehmen und lieben können. Daher sorgen wir verantwortungsvoll und gut für uns selbst.

Da wir uns wirklich selbst lieben, sind wir nicht mehr von der Bestätigung anderer Menschen abhängig. Wir geben uns selbst unseren Liebespartner*innen dar, ganz und gar, mit allem, was wir sind. Interessanterweise erfahren wir auf diese Weise immer wieder, dass dieser oder diese uns wirklich und wahrhaftig liebt oder lieben, mit allem, was wir sind. Weil wir uns ganz, ungeschminkt, ohne Hintertür und doppelten Boden, in jede unserer Liebes- oder Lustbegegnungen hineingeben, wird genau diese Erfahung möglich, nach der sich so viele von uns bereits ihr ganzes Leben sehnen…

Wer sich derart wahrhaftig und bedingungslos willkommen und geliebt fühlt, gewinnt eine innere Aufrichtigkeit und Stärke, die nur noch schwer zu erschüttern ist. Der essenzielle Schritt hin zu dieser Liebe zueinander ist und bleibt jedoch die Liebe zu uns selbst.

Wir haben im Laufe unserer sexuellen Entwicklung und Entfaltung bis hier hin so viel über die Lust an sich und über unsere ganz eigene Lust erfahren, dass wir wissen, wie tief sie uns zu durchdringen und zu erschüttern vermag. Wir kennen und ehren unsere eigene ebenso wie die Versehrtheit und Verletzlichkeit aller anderen Menschen.

Da wir wissen, dass Lust eine Macht ist, die uns in der Tiefe heilen oder aber ebendort vergiften kann, haben wir eine Entscheidung getroffen. Wir haben lieber keinen Sex, als Sex, der wahlweise uns nicht nährt, oder aber für andere Personen mit körperlichem oder emotionalem Leid verbunden ist. Auf der Stufe der „heiligen Sexualität“ geben wir unseren Körper nicht mehr her für Begegnungen, die erfordern, dass dafür ein anderer Mensch belogen oder getäuscht wird.

Heilige Sexualität lässt sich ebenfalls verstehen als das, was sie nicht ist und ausschließt: Dazu gehören selbstverständlich Unfreiwilligkeiten und Zwang ebenso wie jede Form von Entwürdigung, aber auch Lügen, Täuschungen oder andere Manöver der Manipulation haben auf diesem Level des Spiels keinen Raum mehr. Dafür geben wir uns schlicht nicht mehr her.

Dies macht uns auf der einen Seite sehr wählerisch darin, mit wem wir das Spiel der Lust spielen. Andererseits jedoch erhöht dies quasi zwangsläufig massiv die mittlere Qualität unserer sexuellen Begegnungen mit jenen wenigen anderen Menschen. Sexualpartner*innen, mit denen die Nähe, Tiefe oder Intensität, die wir kennen und ehren, nicht möglich ist, verlieren schon bald unser erotisches Interesse.

Auf dieser Stufe verfolgen wir in unseren sexuellen Begegnungen keine Skripte oder Ziele mehr. Jede erotische Begegnung ist neu, ein kokreativer Schaffensprozess, in dem es um nichts anderes geht als darum, das Glück in der Welt zu mehren. Statt „miteinander Sex zu haben“, „treten wir ein in das Land der Lust.“ Dieses Land der Lust hat seine eigenen Gesetze. Wer sie bejaht, die/den heißt es mit reichen Gaben willkommen.

Zeit und Raum, Energie und Materie, Gedanken und Gefühle – all dies wird fluide und formbar im Land der Lust. Da wir wissen, dass unser sexuelles Glück direkt gekoppelt ist an unseren Grad an Offenheit und Verletzlichkeit in diesen Erfahrungen, zeigen wir uns unseren Liebes- und Sexualpartnern bedingungslos offen und unverfälscht. Jede Begegnung ist zu 100% echt. Alles, was da ist, ist eingeladen, sich zu zeigen. Und alles, was sich zeigt, verdient und erhält Ehrung.

Manchmal passiert es, dass beim Sex Gedanken oder Gefühle aufkommen, die so gar nicht zu der freudigen Begegnung zu passen scheinen. Wie gehen wir damit um?

Nun, wir können nun versuchen, sie bei Seite zu wischen, aber kehren sie nicht doch nur ein um’s andere Mal wieder zu uns zurück? Was aber wäre, wenn wir uns damit einfach unserem Liebespartner offenbaren könnten? Wenn wir diesen so gut gewählt hätten, dass er (oder sie) uns auch mit diesen Gedanken oder Gefühlen unvermindert achtet und ehrt? Was könnte dies für eine wunderbare und nährende Erfahrung sein?

Da wir uns in der heiligen Sexualität beständig öffnen und zeigen, ist diese immer wieder erfüllt von Erfahrungen des „ganz und gar, so wie ich bin, geliebt“ werdens. Das tut verdammt gut. Meiner Ansicht nach können Erfahrungen wie diese, inbesondere im Zustand höchster sexueller Offenheit, eine Heilungswirkung entfalten, die Wunden alter Traumata zu lindern oder gar zu schließen vermag.

Dabei kann es übrigens durchaus vorkommen, dass wir Phänomene erleben wie out-of-body-experiences, Auflösung von persönlichen Grenzen, Allverbundenheitsempfindungen oder gar Halluzinationen. Auch diese aber steuern wir nicht an. Wir erfreuen uns lediglich an ihnen, wenn sie sich zeigen. Wir genießen sie und lassen uns vom Fluss der Lust durch sie hindurch hinein in unsere nächsten Empfindungen tragen.

Immer mehr haben unsere sexuellen Begegnungen irgendwie den Charakter von Selbsterfahrungs-Sessions. Wir nehmen uns Zeit und schalten bewusst Störquellen aus. Wir sorgen dafür, dass unsere gemeinsame Erfahrung zum größtmöglichen Wohl aller Beteiligten führt. Wir legen großen Wert auf einen weichen Ein- und Ausstieg aus dem Erfahrungsraum der Lust. Was wir darin erleben, ist so intensiv und krempelt uns derart von innen nach außen, dass wir sehr gut darauf achten, uns danach nicht allzu abrupt in einen verkopften Alltag hinüberstürzen zu müssen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass wir deswegen die Qualität eines verschmitzten Quickies missachten oder in den Wind schreiben würden. Dieser ist nur eben nicht der Standard, sondern eine verspielte Variation.

In der heiligen Sexualität vereinen sich also alle zuvor durchlaufenen Phasen zu einem vielgestaltig neuen Ganzen. Sie ist voll der Ehrung für uns selbst und unsere Gefährt*innen in der Liebe und Lust. Sie ist ebenso verspielt wie forschend. Und in all dem, wie schmutzig oder un-verschämt das konkrete Tun von außen auch wirken mag, ist die heilige Lust zutiefst und durch und durch unbedarft. Weil sie nichts will, sondern lediglich ganz und gar echt von Augenblick zu Augenblick mit allem, was da ist, in Begegnung tritt.

In der heiligen Sexualität geht es nicht mehr um geben und nehmen, sondern um schenken und empfangen. Wer diesem Unterschied nachspürt, kommt dem Geheimnis der heiligen Sexualität möglicherweise schon recht nahe.

Lernerfahrungen in der Phase der heiligen Sexualität

Meine Sexualität ist ein integraler Teil meines Lebens.
Meine sexuellen Erfahrungen sind durchdrungen von Freude und Glück.
Jede meiner sexuellen Begegnungen nährt mich an Seele und Leib.
Je tiefer ich mich in die Lust fallen lasse, desto intensiver begegne ich mir selbst.
Je mehr ich mich öffne und zeige, desto intensiver erfahre ich mich als wahrhaftig geachtet, geliebt und gewollt.
Mein Körper ist ein Heiligtum, in dem Wunder geschehen können, wenn ich die richtigen Zauber zu sprechen weiß.

Eine „natürliche“ sexuelle Entwicklung…

„Wagen wir, die Dinge
zu sehen, wie sie sind.“

Albert Schweitzer (1875 – 1965)

Stellen wir uns vor, es wäre möglich, dass ein Kind in seinem familiären Umfeld bereits von klein auf erfährt, dass es selbst und seine Gefühle willkommen sind. Dass es Spaß machen darf, sich selbst zu berühren und mit anderen Sinnesreizen zu spielen…

Stellen wir uns vor, dieses Kind würde die eigene Pubertät zwar als durchaus irritierende Achterbahnfahrt empfinden, sich selbst aber in all dem von seinem familiären und sozialen Umfeln wohlwollend und respektvoll begleitet und getragen fühlen. Einem familiären und sozialen Umfeld zudem, in dem ebenso verantwortungsbewusst wie offen über Themen wie Gefühle, Werte, Bedürfnisse und eben auch das reiche Feld der Sexualität kommuniziert werden darf und kann. In dem Väter oder Mütter, (leibliche oder emotionale) Onkel oder Tanten, große Schwestern oder Brüder, den noch Unerfahrenen wertvollen Rat und/oder teils noch wertvolleren Beistand geben.

Stellen wir uns vor, ein junger Mensch würde in einem Klima wie diesem heranwachsen… Wäre es da nicht denkbar, dass ein solcher Mensch die Stufe seiner oder ihrer sexuellen Selbstehrung möglicherweise schon mit Anfang zwanzig erreicht? Sollte dies möglich sein, könnte so ein Mensch die Stufe der heiligen Sexualität vielleicht gar erklimmen, noch bevor er sein oder ihr 30. Lebensjahr vollendet? Spätestens von da an wäre jede seiner oder ihrer sexuellen Erfahrungen ein Füllhorn an körperlicher wie emotionaler Nahrung.

Ich frage mich ernsthaft: Mit welcher Körperhaltung, mit welchem Gesichtsausdruck, mit welchem Blick ginge wohl ein solcher Mensch mit Anfang 40, Anfang 60 oder Anfang 80 durch sein Leben und durch die Welt?

Meiner therapeutischen und persönlichen Erfahrung nach wurden unzählige der heute erwachsenen Menschen in diesem natürlichen Entwicklungsprozess gestört oder unterbrochen. In den allermeisten Fällen geschah dies bereits auf der ersten oder der zweiten Stufe.

Wahlweise fühlten wir uns bereits als Kinder in unserer Körperlichkeit und/oder unseren Gefühlen missachtet oder abgelehnt. Oder aber wir erfuhren in der Pubertät, dass unsere emotionalen oder körperlichen Impulse beständig ins Leere liefen oder gar mit Spott oder Gerinschätzung gestraft wurden. Derartige Erfahrungen können dazu führen, dass wir wahlweise resignieren und unsere Impulse, Sehnsüchte oder Wünsche zu unterdrücken lernen, oder aber wir fangen gar selbst an, uns für das abzulehnen und zu verachten, wonach es sich in uns sehnt.

Wer diesen Weg erstmal eingeschlagen hat, entfernt sich in seiner oder ihrer Sexualität nicht selten immer weiter von der real möglichen Erfahrung wahrhaftiger sexueller Fülle. Möglicherweise erscheint ihm oder ihr allein die Idee, dass dies möglich wäre, fremd, geradezu weltfremd. Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht ist: der nächste Schritt zum Glück liegt für viele von uns direkt greifbar vor unserer Nase. Alles, was es dafür braucht, ist unsere eigene Erlaubnis dazu, nach der wir uns möglicherweise schon lange sehnen, und die wir uns nun vielleicht endlich selbst geben. Dabei geht es allzumeist wahlweise um die Erlaubnis, wirklich frei mit unserer Sinnlichkeit und Lust spielen zu dürfen, oder aber um die Erlaubnis, uns selbst und die Kraft unserer Sexualität wirklich zu achten und von ganzem Herzen zu ehren.

Uns wurde beigebracht, dass die Sache mit dem Sex in Bezug auf unser Menschenleben nur von marginaler Bedeutung sei. Der Volksmund nennt unsere Sexualität vielsagend „die schönste Nebensache der Welt“. Wer die wissenschaftlichen Fakten kennt, ist anderer Meinung.

Wer sich selbst und seine oder ihre Sexualität wirklich ehrt, wird ganz von allein zur/zum Forschenden, wird sich entdecken, erfahren und ausdehnen und schließlich jenen Grad an Selbst-Bewusstheit erreichen, der das, was ich „heilige Sexualität“ nenne, möglich macht. Von da an werden wir unsere sexuellen Energien immer wieder als Lebenskräfte erleben, die uns erfrischen und beglücken.

Bis dahin mag es gefühlt noch ein weiter Weg sein. Der Schlüssel zu dieser sexuellen Fülle jedoch liegt für viele von uns schlicht darin, uns selbst und unserer Sexualität die Achtung und Ehrung zukommen zu lassen, die wir selbst und sie in unserem Leben wirklich verdienen. Vielleicht sogar braucht es noch weniger. Vielleicht braucht es nicht mehr, als dass ein Teil von uns damit beginnt, wahre sexuelle Fülle in unserem Leben überhaupt für möglich zu halten…

Anders, als es in dem Sprichwort heißt, beginnen die wirklich großen Reisen in unserem Leben nicht erst mit dem ersten Schritt. Sie beginnen oft ein bedeutendes Stück früher. Jede wirklich große Reise in unserem Leben, jeder wirklich nennenswerte Entwicklungschritt, beginnt damit, dass wir etwas für möglich halten, das uns zuvor, aus welchen plausiblen (!) Gründen auch immer, als unerreichbar oder gar undenkbar erschien.

Dies ist es, was ich mit all meinen Worten vorab zum Ausdruck bringen wollte: Um es, etwas abgewandelt, mit den Worten von Charles Eisenstein zu sagen:

„Die erfüllende und erfüllte Sexualität, die dein Herz kennt, ist möglich.“

Wir heute Lebenden können etwas dazu beitragen, dass diese Erkenntnis eines Tages möglicherweise für uns selbst oder unsere Nachkommen vollkommen „normal“ ist.

Lies hier weiter:

untervögelt – macht zu wenig ( guter! ) sex uns hässlich, krank und dumm?

Go fuck yourself! Wir brauchen eine neue Masturbationskultur!

No risk, no fun? Die Sache mit den Geschlechtskrankheiten

Links zum Text:

Janie Petersens Website: https://www.tantra-mama.com/

Layla Martins Website: https://laylamartin.com

 

 

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3 Antworten

  1. Das ist ein Ideal, aber für die wenigsten Menschen der tatsächliche Ablauf. Allein „ich bin wichtig“ ist ja schon keine selbstverständliche Erfahrung, und das ist frühe Prägephase! Ich glaube auch nicht, dass so frühe Verbiegungen dann beliebig wieder rauszudrehen sind. Zumal es ja auch noch Gegenübers bedarf, das Unterfangen einer Weiterentwicklung also mehrere Personen auf einen Nenner bringen muss, wobei die Auswahl auf höheren Entwicklungsstufen ja auch strenger wird. Schöne Tantra-Yoga-Sensual Körper geben sich selten unter Niveau her (sollen sie natürlich auch nicht). Einmal abgehängt, bleibts dann meist dabei. Für viele ist das alles also sehr fern, unzugänglich. Und verstrickt ist das alles auch noch darin, dass es einer Mehrheit von genügsamen, selbstignorierenden Menschen bedarf, um unter den herrschenden Bedingungen diejenigen Grundlagen zu schaffen, auf denen dann alles andere anmutig wandelt – auch und gerade die kreativen, bewussten, entwickelten Menschen. Diese Hierarchie wird gerne geleugnet.

  2. Bitte, gibts das auch als Pdf? Oder als kleines Heft? Ich lese sowas am liebsten im Liegen und auf Papier, um unterstreichen von stellen, die mir wichtig sind.
    Die Online-Version führe ich mir später mal zu gemüte, wenn ich nicht schon so lange am PC/Notebook gesessen habe…
    die Headlines sind vielversprechend. Ich bin gespannt..

  3. Ganz lieben Dank für diese Ausführungen. Das ist wie eine Landkarte in die Hand zu bekommen für einen Weg, den ich sowieso – und unbeirrbar – beschreite, fast schon beschreiten muss. LIEBE machen mein aktueller Arbeitstitel. Mit Deinen Hinweisen zur heiligen Sexualität (hier heißt es heilige Hochzeit) kann ich zukünftig – dank Deiner Aufklärung – wesentlich achtsamer mit mir und meinen Mit“Spielern“ – und vor allem mit unseren Gefühlen in diesem Spiel – umgehen.

    Herzliche Grüße,
    Kathleen

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