Nicht…! Gut…! Genug…!
Von negativen Selbstüberzeugungen –
und von der Kunst, sie zu überwinden…
„Man urteilt über andere nicht
so falsch wie über sich selbst.“
Luc de Clapiers Vauvenargues (1715 – 1747)
Ich arbeite seit inzwischen fast zwanzig Jahren als Coach, als Therapeut und Mentor mit den unterschiedlichsten Menschen zu den unterschiedlichsten Themen… Immer wieder habe ich es in meinen Gesprächen mit Klientinnen und Klienten mit jenem Phänomen zu tun, das man auf der Straße oder auch in vielen therapeutischen Praxen als „Selbstzweifel“ bezeichnet…
Für nicht wenige meiner Klient:innen ist dies eines ihrer Kernanliegen, mit denen sie sich an mich wenden… Sei es im Berufsleben, in ihren Freundschaften oder in der Liebe, im Umgang mit Konflikten oder ihrer Sexualität: Viele, viele Menschen in unserer Kultur tragen tief in sich die nagende Überzeugung, als Mann, als Frau, als Mensch so wie sie sind, nicht gut, nicht wertvoll, nicht achtens- und/oder liebenswert zu sein…
Hierbei ist es vielleicht interessant zu wissen, dass Selbstzweifel, Selbstablehnung oder Selbstabwertung weitaus weniger mit unserem beruflichen Erfolg, unserem Einkommen oder unserem vermeintlichen sozialen Status verknüpft sind, als dies viele Menschen glauben… Immer wieder spreche ich mit Menschen, die in dem, was sie tun, überaus erfolgreich sind oder teilweise von anderen Menschen bewundert werden, allerdings zutiefst davon überzeugt sind, dass sie das, was sie in ihrem Leben an Erfolg oder Glück erfahren, im Grunde gar nicht wert sind…
Wie können wir uns selbst von derartig negativen Überzeugungen über uns selbst lösen…?
Was können wir selbst aktiv und bewusst tun, um uns selbst nach und nach, Schritt für Schritt, immer mehr zu einem wahren Freund, zu einer Förderin und einem oder einer echten Vertrauten zu werden, so dass die zweifelnden, ängstlichen oder verurteilenden Stimmen in unserem Kopf im Laufe der Zeit immer stiller und stiller werden…?
Interessanterweise ist dies nicht nur möglich, sondern in meinen Augen im Grunde sogar relativ einfach zu erklären… Diesen Weg selbst zu gehen allerdings, braucht immer wieder neu Entschlossenheit, Mut und vor allen Dingen Selbst-Bewusstheit…
Ich werde euch in diesem kleinen Essay ein paar Perspektiven und Hinweise geben, die euch hoffentlich dabei behilflich sein können, euch selbst im Laufe der kommenden Wochen oder Monate immer mehr zu mögen, immer mehr zuzutrauen und immer mehr so anzunehmen, wie ihr wirklich seid…
Es geht nicht um Zweifel.
Es geht um Überzeugungen.
„Wirklich aufrichtig zu sich selbst zu sein,
ist eine gute Übung.“
Ich glaube, wenn wir uns von den quälenden Stimmen in unserem Kopf lösen wollen, dann besteht der erste Schritt dorthin darin, uns ein paar unangenehmen Wahrheiten über uns selbst zu stellen…
In einem anderen Artikel in diesem Blog schreibe ich: „Selbstliebe […] beginnt […] mit […] Selbstkonfrontation…“. Im Grunde ist dies wie bei allen anderen Freundschaften in unserem Leben auch:
Jede noch so tiefe Freundschaft beginnt mit zwei Menschen, die einander zunächst fremd sind… Je sympathischer diese beiden Menschen einander sind, je offener und aufrichtiger sie sich einander zeigen, und je mehr emotional verbindende oder nährende Erfahrungen diese beiden miteinander erleben, desto wahrscheinlicher werden aus diesen beiden Fremden eines Tages Freunde…
Die erste bittere Wahrheit, der wir uns in diesem Prozess meiner Erfahrung nach stellen müssen, ist die Erkenntnis, dass es sich bei dem, was uns plagt, keinesfalls um Selbstzweifel handelt, sondern um Selbstüberzeugungen…! Es ist nicht so, dass die Erfahrungen unseres Lebens oder die Rückmeldungen unserer Mitmenschen unseren Glauben an uns selbst schmälern würden… Die Wahrheit ist: Diese Erfahrungen oder Interaktionen bestätigen Überzeugungen, die längst unseren innersten Kern durchdringen… Mindestens eine von diesen lautet (so oder so ähnlich): „So, wie ich bin, bin ich nicht gut (genug)…!“
Meiner aktuellen Auffassung nach ist unsere Psyche kein Singular, sondern ein integraler Plural… Auf diese Perspektive auf unser Menschsein gehe ich im Bereich „Menschenbild“ dieses Blogs detaillierter ein…
Vor dem Hintergrund dieses Menschenbildes konkretisiere ich meine bisherigen Aussagen folgendermaßen:
Nicht unser ganzes Ich ist davon überzeugt, dass wir ungenügend, mangelhaft oder wertlos wären… Für einzelne Teile in uns jedoch ist diese Auffassung ein fester Bestandteil ihres Selbstkonzepts…
Da diese inneren Anteile in uns, so sehr uns ihre Sichtweisen auch stören oder in unserem Leben oder Wachstum behindern mögen, unauflöslich mit uns und unserer Psyche verbunden sind, ist es unmöglich, diese Stimmen in uns dauerhaft zu verbannen, einzusperren oder zum Schweigen zu bringen…
Sie sind da, sie sind Teile von uns, und sie erfahren das, was wir erleben, vor dem Hintergrund ihrer ganz eigenen Überzeugungen über die Welt, das Leben oder sich selbst…
Das, was sie uns einflüstern, mag objektiv betrachtet alles andere als wahr sein… In den Augen jener Teile in uns allerdings ist das, was sie uns sagen, mindestens plausibel, vielleicht sogar zwangsläufig…
Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die meisten Affirmationsübungen im Umgang mit negativen Selbstüberzeugungen meiner Erfahrung nach wenig hilfreich sind:
Wir können unserem Spiegelbild hundertfach erzählen, dass wir uns selbst super, begehrenswert oder wertvoll finden… Wenn dieses Spiegelbild uns gegenüber uns für mangelhaft, für hässlich oder nutzlos hält, dann können wir stundenlang auf ihn oder sie einreden und werden doch nichts weiter ernten als ein mitleidiges Schulterzucken…
Wie entstehen Überzeugungen…?
Und wie verändern sie sich…?
„Die Hauptaufgabe eines jeden Menschen
ist, sich selbst zu gebären.“
Ein ganz kurzer Ausflug in die Theorie des Lernens:
Erstens: Jeder Lernprozess besteht im Grunde aus zwei Teilschritten… Nämlich: einer Einsicht oder Erkenntnis einerseits (Im Sinne von: „Ah, so ist das..:!“ oder „Ah, so könnte ich das auch machen…!“) und anschließend der wiederholten Überprüfung und Bestätigung dieser Erkenntnis durch konkrete Erfahrungen im eigenen Leben…
Zweitens: Wir Menschen sind durch und durch soziale Tiere… Das zeigt sich sehr deutlich daran, wie sehr dauerhafte Einsamkeit nicht nur unsere Stimmungslage, sondern auch unser Immunsystem negativ beeinflusst… Daher kommt in allen zentralen und relevanten Lernprozessen unseres Lebens unseren Mitmenschen, insbesondere unserem direkten sozialen Umfeld, eine entscheidende Bedeutung zu… Was das Lernen durch Vorbild und Nachahmung angeht, sind wir Menschen übrigens etwas ganz besonderes: Kein anderes Lebewesen auf diesem Planeten lernt so schnell, so präzise und so nachhaltig durch Vorbild und Nachahmung wie der Mensch…
Drittens: Ein wichtiger Lern-Booster neben der Wiederholung sind unsere Gefühle… Je intensiver die Gefühle sind, die wir mit einer bestimmten Lernerfahrung verknüpfen, desto tiefer brennt sich diese in unser Gehirn ein…
Dies vor Augen verwundert es nicht, dass insbesondere die Erfahrungen unserer Kindheit und Jugend sich besonders tief in unsere Psyche einbrennen... In dieser Zeit sind wir einerseits hochgradig emotionale Wesen und andererseits zutiefst abhängig von unserem direkten sozialen Umfeld… Noch dazu erfahren wir viele Dinge in dieser Zeit zum allerersten Mal… Nicht ohne Grund sprechen Psycholog:innen, was diese Phase unseres Lebens angeht, von unseren „prägenden Jahren“…
Ein Mensch, der während der prägenden Jahre seiner Kindheit und Jugend wieder und wieder mit der Erfahrung konfrontiert wird, innerhalb seines direktem sozialen Umfelds (Familie, Schule, Nachbarschaft…) abgelehnt oder abgewertet, ausgelacht oder ausgeschlossen, beschimpft, bedroht, beschuldigt oder bestraft zu werden, hat es nachvollziehbarerweise schwer, vor diesem Hintergrund ein positives und annehmendes Selbstbild zu entwickeln…
Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wird dieser Mensch es Zeit seines Lebens mit verinnerlichten Stimmen zu tun haben, die ihm sagen, dass er „ungenügend“, „minderwertig“, „falsch“, „anstrengend“ oder „schwierig“ ist, und dass es sicher nicht mehr lange dauern wird, bis alle anderen dies letzten Endes auch erkennen werden… Oder dass sie es verdient haben, von anderen Menschen abgelehnt oder abgewertet, ausgelacht oder ausgeschlossen, beschimpft, bedroht, beschuldigt oder bestraft zu werden…
Du findest dich und dein Leben in den vorgenannten Absätzen wieder…? Scheue dich nicht davor, dir für die Begegnung mit deiner Vergangenheit in dir professionelle Hilfe zu holen… Es gibt Menschen, die geübt und erfahren darin sind, deiner Geschichte mitfühlend zu lauschen und dir Rat zu geben im Umgang mit all jenem, dem du dabei begegnest…
Zurück zu unseren im Laufe unserer Lebensjahre tiefer und tiefer verinnerlichten Annahmen über uns selbst, unsere Mitmenschen oder das Leben:
Selbstverständlich sind die allermeisten unserer (negativen oder auch positiven) Annahmen oder Überzeugungen über uns selbst objektiv betrachtet in keinster Weise wahr… Für eben jene inneren Anteile in uns, die die eine oder andere Art hochemotionaler Erfahrung wiederholt am eigenen Leibe erfahren durfte oder musste jedoch, sind diese Überzeugungen durch und durch plausibel…!
Darum hilft es wenig, uns einzureden, wir wären erfolgreich, glücklich, begehrenswert oder wertvoll, so lange sich dies in unserem Inneren nicht wirklich wahr anfühlt… Solange es in uns auch nur einen inneren Anteil gibt, für den unsere wohlgemeinten Affirmationen nichts als leere Worthülsen sind, die seinen ganz realen und handfesten Lebenserfahrungen widersprechen, werden derartige Versuche nicht nur unwirksam bleiben, sondern unserem inneren Eindruck von uns selbst schlimmstenfalls noch das Stichwort „naiv“ hinzufügen…
Stelle dir vor, jemand würde dir erzählen, dass der Himmel, den du über dir siehst, nicht hellblau oder grau wäre, sondern zartrosa oder neongrün… Würdest du diesem Menschen glauben, wenn er dies zehnmal wiederholt…? Würdest du diesem Menschen glauben, wenn er es hundertmal wiederholt…? Ich vermute nicht…
Ebenso lassen sich auch die inneren Anteile in uns nachvollziehbarerweise nicht durch bloßen Widerspruch davon überzeugen, dass das, was sie bislang glauben, auf einmal nicht mehr wahr sein soll… Insbesondere dann nicht, wenn auch das aktuelle Leben in ihren Augen voller sichtbarer Hinweise dafür ist, dass ihre Annahmen oder Überzeugungen ganz sicher der Wahrheit entsprechen…
Da braucht es schon ein wenig mehr…
Wie wir unser Selbstbild nachhaltig verändern:
Die drei Säulen der Selbstbewusstheit…
Säule 1: Übe dich in Selbstgewahrsein…!
„Aufmerksamkeit und nicht Willenskraft ist der
Schlüssel, um eine persönliche Fähigkeit zu erwerben….“
Moshé Feldenkrais (1904 – 1984)
Jede Veränderung zum Guten benötigt integral die Einsicht und Annahme all jener Dinge, die wir nicht verändern können… Hierzu gehören nicht zuletzt die Erfahrungshintergründe und Perspektiven im Inneren unserer Psyche…
Die erste Säule eines unerschütterlichen Selbstbewusstseins ist die Säule des Selbstgewahrseins… Dieses beginnt unter anderem ganz grundlegend damit, dass wir lernen und uns darin trainieren, die Gedanken in unserem Kopf nicht mehr als unsere eigene „Wahrheit“ oder „Meinung“ zu verstehen, sondern als das, was sie wirklich sind: Stimmen oder Bilder einzelner Anteile unserer Psyche, die wir (unser selbst) in unserem Inneren lediglich bemerken…
Wenn wir aufhören damit, diese inneren Stimmen als vermeintliche Verkünder:innen von Wahrheiten misszudeuten, können wir erkennen, was die vermeintlich selbstkritischen Anteile in uns uns wirklich zeigen: Sie zeigen uns erworbene oder verinnerlichte Annahmen oder Überzeugungen, unter denen unsere Psyche leidet…
Ich wiederhole mich hier, um zu unterstreichen: Diese Glaubenssätze in uns sind nicht wahr… Aber sie sind dennoch zumindest in den Augen einzelner Instanzen unserer Psyche hochgradig plausibel…
Interessant ist, was passiert, wenn wir den Stimmen in unserem Kopf ganz bewusst ein wenig länger zuhören, als wir es gewohnt sind… Nicht selten nämlich gesellen sich zu den ersten Stimmen im Laufe von Sekunden oder auch Minuten noch weitere andere Stimmen hinzu…
Insbesondere die Stimme der oder des alten Weisen in uns, die jede/r von uns ebenfalls in sich trägt, meldet sich oft erst ziemlich spät zu Wort, nachdem alle lauten und emotionalen Anteile in uns sich ihren Raum genommen haben… Das, was diese Stimme in uns sagt, ist oft überaus hilfreich darin, uns selbst oder unsere aktuelle Situation aus mehreren Blickwinkeln zugleich zu betrachten… Nicht zuletzt ihretwegen empfehle ich, dem Dialog oder auch Disput in unserem Kopf öfter mal ein wenig länger zuzuhören…
Wollen wir mit uns selbst wirklich in Frieden sein, dann bedeutet dies, dass wir auch mit den Stimmen oder Bildern in unserem Kopf Frieden finden… Wir können sie nicht loswerden, aber wir können ihnen Raum geben, sich uns zu offenbaren und mitzuteilen… Wir sind es, die den verängstigten, selbstunsicheren oder mutlosen Anteilen in uns unübersehbar zeigen können:
„Du bist nicht allein…!“
„Ich bin bei dir…!“
„Ich sehe dich und fühle mit dir…!“
„Du bist mir wichtig, und ich liebe dich…!“
„Wir gehen da gemeinsam durch…!“
Je sicherer und geborgener die selbstunsicheren ebenso wie die selbstkritischen Anteile sich in uns fühlen, desto seltener werden sie uns mit ihren Gedanken oder Gefühle überschwemmen… Schließlich ist es auch für sie viel leichter und entspannter, sich uns zu zeigen, ohne dafür ein emotionales Drama veranstalten zu müssen…
Tägliche Praxis:
Übe dich täglich darin, den inneren Stimmen in dir zu lauschen…! Fühle dich dabei hinein in jenen Teil deiner Psyche, der sich dir durch diese Worte, Bilder oder Empfindungen zeigt…! Lerne zu bemerken, wenn deine innere Aufmerksamkeit zwischen den Bildern, Stimmen oder Empfindungen verschiedener Anteile in dir hin- und herwechselt…! Höre deinen inneren Anteilen zu, wie sie aufeinander antworten oder reagieren…! Lerne, zu beobachten, statt zu beurteilen…! Lerne, all das anzunehmen, was in dir ist…!
Säule 2: Umgib dich mit Menschen, die das Licht in dir sehen…!
„Ein wahrer Freund trägt mehr
zu unserem Glück bei,
als tausend Feinde
zu unserem Unglück…“
Marie von Ebner-Eschenbach (1830 – 1916)
Wie soll ein Mensch das eigene Potenzial auch nur erahnen, wenn er in seinem gelebten Leben umgeben ist von Menschen, die nicht an ihn glauben, die ihn als mangelhaft oder minderwertig betrachten – und ihn dies auch immer wieder spüren lassen…?
Wir alle sind bis in den Kerncode unseres Wesens hinein durch und durch soziale Wesen… Wir brauchen die Rückmeldungen anderer Menschen, um uns selbst zu erkennen… Wir brauchen die Liebe und Annahme anderer Menschen, um zu erfahren und zu begreifen, dass wir liebenswert und wertvoll sind… Wir brauchen den Kontakt mit den Grenzen anderer Menschen, um auch unsere eigenen Grenzen erkennen und annehmen zu lernen…
Es ist vermutlich nicht möglich, unser Leben so zu gestalten, dass wir darin ausschließlich umgeben sind von Menschen, die uns achten oder bestenfalls sogar mögen, die stets das Gute in uns sehen und Lust darauf haben, uns zu fördern… Aber wir haben es doch mindestens teilweise in der Hand, wie viel Lebenszeit, wie viel Offenheit oder wie viel emotionale Nähe wir mit welcher Art von Menschen teilen…
Je reichhaltiger unser Leben erfüllt ist mit Menschen, die wir für interessant und inspirierend halten, und bei denen wir uns gesehen, geachtet und willkommen fühlen, desto leichter ertragen wir übrigens auch jene Stinkstiefel oder Giftspritzen, denen wir aus welchen Gründen auch immer leider nicht aus dem Wege gehen können…
Tägliche Praxis:
Erlaube dir an jedem Tag deines Lebens mindestens einmal wenigstens einen kurzen Kontakt mit einem Menschen, in dessen Gegenwart du ungeschminkt echt sein kannst und dich ohne jeden Zweifel gesehen, geachtet und willkommen fühlst…! Genieße jeden Tag wenigstens kurz Zeit ganz mit dir allein…!
Säule 3: Beeindrucke dich selbst…!
„Ein gesundes Selbstbewusstsein entsteht
dadurch, dass wir uns selbst konfrontieren,
uns selbst herausfordern dazu, zu tun,
was richtig ist, und uns dadurch
Respekt vor uns selbst verdienen…“
Ob wir es uns selbst eingestehen oder nicht: Eine der wichtigsten Grundfragen, mit der wir alle es in unserem Leben immer wieder zu tun bekommen, ist die Frage:
„Wer bin ich…?“
In einer derart leistungsorientierten Kultur wie der unseren stellt sich direkt im Anschluss an diese erste Frage allzumeist noch eine zweite:
„Bin ich gut so, wie ich bin…?“
Pfiffige Coaches oder Therapeut:innen wenden bei dieser zweiten Frage gerne ein, wer genau denn wohl darüber entscheiden dürfte, ob wir selbst, so wie wir sind, „gut (genug)“ sind oder nicht…
Meine Antwort auf diese Frage lautet nüchtern: Einerseits hat natürlich niemand außerhalb von uns selbst die Kompetenz oder gar das Recht, darüber zu urteilen, ob wir als Mensch „wertvoll“ oder „gut“ sind – oder eben nicht… Anderseits aber werden die Stimmen in unserem Inneren ausnahmslos immer eine Meinung darüber haben, wie wir mit den Herausforderungen unseres Lebens umgehen… Und all diese potenziell durchaus verschiedenen Sichtweisen oder auch Urteile in uns selbst über uns selbst werden allesamt und ausnahmslos mindestens aus einer bestimmten Perspektive heraus als zutiefst plausibel (wenn nicht gar zwangsläufig) betrachtet… Hierauf bin ich in meiner Beschreibung der ersten Säule bereits näher eingegangen…
Viel interessanter als die Entstehung unserer inneren Antworten auf die zweite Frage finde ich daher den Prozess, in dem unsere Psyche (in all ihrer schillernden Vielgestaltigkeit) eine Antwort auf die erste, weitaus grundlegendere Frage konstruiert:
Auf die Frage: „Wer bin ich…?“
Selbstverständlich ist diese Ur-Frage aller Fragen in all ihren psychologischen und philosophischen Dimensionen um Dimensionen zu vielschichtig und komplex, als dass wir sie im Laufe unseres Lebens auch nur annähernd umfassend beantworten könnten…
Gleichzeitig jedoch braucht unsere Psyche, um in den vielgestaltigen Erfahrungen unseres Lebens wenigstens halbwegs konsistente und zielführende Entscheidungen treffen zu können, mindestens eine halbwegs schlüssige und stabile Vorstellung davon, was für ein Mensch wir sind, welche Werte, Antriebe oder Widerstände unser Handeln prägen und wie wir von den Menschen, die in unserem gelebten Leben eine emotionale Bedeutung haben, wahrgenommen werden wollen…
All diese Informationen über uns selbst erfährt unsere Psyche nicht durch konzentriertes Grübeln, sondern viel energiesparender ganz einfach dadurch, dass sie uns in Echtzeit dabei beobachtet, was genau wir wann, wo, mit wem und vor allem wie genau tun…
Wenn unsere Psyche uns dabei beobachtet, wie wir zwar etwas Wichtiges zu sagen hätten, dies allerdings verschweigen, leitet sie aus unseren Gedanken, Gefühlen, Entscheidungen und Verhaltensweisen währenddessen Hinweise auf unseren Charakter ab… Je nach den konkreten Umständen könnte unsere Psyche beispielsweise ableiten: „Ich bin ein schüchterner Mensch…“ oder aber auch: „Ich bin ein Mensch, dem man besser nicht allzu blind vertrauen sollte…“ Ist dies das Bild, das wir in uns selbst von uns selbst verankern wollen, sollten wir genau damit weiter machen… Wenn nicht, sollten wir an dieser Storyline irgendwann vielleicht irgendetwas ändern…
Wenn wir im Zustand der Wut dazu neigen, zu brüllen, anklagend, beleidigend oder sogar gewalttätig zu werden, leitet unsere Psyche auch hieraus plausible Schlüsse über unsere Persönlichkeit ab… Wir mögen diese Selbstwahrnehmung uns selbst oder anderen gegenüber mit hübschen Worten wie „leidenschaftlich“, „tempereamentvoll“, „südländisch“ oder „in Kontakt mir meiner Wutkraft“ zu kaschieren versuchen… All dies ändert nichts am Eintrag „potenziell gefährlich“ in unserer inneren Selbstbeschreibung… Wenn es das ist, was zu sein wir uns immer schon gewünscht haben – weiter so… Wenn nicht, wäre es vielleicht eine spannende Idee, sich mal ein wenig tiefer mit dem Thema „Regulation von Emotionen“ auseinanderzusetzen…
Wenn wir Menschen mit einer un-verschämten Aussage zum Schmunzeln bringen (oder eben nicht), zieht unsere Psyche Rückschlüsse über uns… Wenn wir unserem Kind zuhören, wenn es von der Schule erzählt (oder eben nicht)… Oder wenn wir bestimmten Menschen in unserem Leben zu Liebe Dinge mitmachen oder erdulden, die uns selbst nicht gut tun…
Durch die Art und Weise, wie wir unser Leben leben, erzählen wir unserer Psyche fortwährend eine Geschichte darüber, wer wir sind, was uns wichtig ist oder unwichtig, was wir für richtig halten oder falsch, für möglich oder unmöglich… Auf Basis dieser Annahmen über uns selbst werden in unserem Kopf bestimmte Entscheidungen im Laufe der Zeit, je nachdem, immer wahrscheinlicher oder eben unwahrscheinlicher…
Wenn du gerne selbstsicherer und mutiger werden möchtest, besteht daher der zielstrebigste Weg dorthin darin, dass du es dir zu einem täglichen Übungsprogramm machst, mindestens einmal am Tag mindestens ein ganz kleines bisschen mutig zu sein und dich selbst (und deine inneren Anteile) damit täglich ein kleines bisschen zu beeindrucken…
Was genau das bedeutet, kann von Tag zu Tag sehr unterschiedlich aussehen:
Vielleicht trägst du am Montag ein Shirt, einen Schal oder Schuhe in einer knalligen Farbe, die bislang nur wenige an dir kennen… Oder probierst ein Gericht, das du noch nie zuvor gegessen hast…
Vielleicht weist du am Dienstag ein Kompliment nicht zurück, sondern nimmst es dankend und mit einem Lächeln an… Oder sagst an einer Stelle „Nein…“, an der du sonst „Ja…“ gesagt hättest…
Vielleicht bestellst du am Mittwoch eine Pizza mit diversen Extrawünschen (inkl. Ananas)… Oder singst unter deiner Dusche laut ein Lied…
Vielleicht sagst du am Donnerstag einer Kollegin, dass du ihr Verhalten unangemessen fandest… Oder machst einer wildfremden Person ein ernst gemeintes Kompliment…
Vielleicht fragst du am Freitag deinen besten Freund nach seinem Sexualleben… Oder deine Chefin nach einem Feedback-Gespräch…
Vielleicht erlaubst du dir am Samstag am Gemüse-Stand einen augenzwinkernden Scherz… Oder tanzt, als spielte die Musik ganz alleine für dich…
Vielleicht gestehst du am Sonntag einer Freundin ein Geheimnis… Oder masturbierst ohne innere Scheuklappen…
Oder…
Oder…
Oder…
Die Liste der Dinge, die wir tun können, um uns selbst zu beeindrucken, verkrustete Gewohnheiten aufzubrechen oder uns selbst als mutig oder sogar wirksam zu erleben, ist lang… Wichtig hierbei ist, dass das, was wir tun, unseren inneren Werten entspricht und uns wenigstens ein kleines bisschen spüren lässt, wie es sich anfühlen würde, der Mensch zu sein, der wir schon immer gerne sein wollten…
Wichtig ist nicht, ob das, was du tust, irgendeinen anderen Menschen auf diesem Planeten oder in deiner Phantasie beeindrucken würde… Allein entscheidend ist, dass das, was du tust, mindestens einen Anteil in dir mindestens ein ganz kleines bisschen stolz auf dich macht…
Wann immer wir irgendetwas tun, das uns zumindest ein Teelöffelchen an Tapferkeit kostet, erlebt uns unsere Psyche als einen Menschen, der sich seinen Ängsten stellt – und der im Stande ist, den eigenen Ängsten so lange in die Augen zu schauen, bis sie blinzeln… Wann immer wir uns in unserem alltäglichen Leben kleinen oder größeren Herausforderungen stellen, erzählen wir dadurch unserer Psyche die Geschichte eines Menschen, der sich seinen inneren Grenzen stellt – und der es nicht nur verdient hat, sondern auch dazu im Stande ist, diese zu überwinden…
Diese Art von Selbst-Erfahrungen, in denen wir uns selbst durch unser eigenes Tun (immer mal wieder mindestens ein kleines bisschen) beeindrucken, erzeugen im Nachhinein quasi zwangsläufig ein tiefes, wärmendes Gefühl von Stolz und Selbstzufriedenheit… Dieses wiederum hat meiner Erfahrung nach massiv positiven Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, mit der wir dieses Verhalten in Zukunft wiederholen werden…
Begründeter, vor uns selbst verdienter Stolz ist eine Antriebskraft, deren positive Wirksamkeit viele Menschen unterschätzen… Auf ihn und seine Zwillingskraft, die Scham, gehe ich in meiner Beschreibung unserer „komplexen Gefühle“ ein wenig näher ein…
Selbstverständlich ist es für die Wirksamkeit derartiger Mut-Erfahrungen überaus hilfreich, wenn unser mutiges Tun auch zu einem positiven Ergebnis führt… Interessanterweise jedoch ist dies gar nicht so zwingend notwendig, wie viele Menschen vermuten… Allein die Tatsache, trotz Widerständen im Außen und Ängsten im Innen den eigenen Werten und der eigenen Wahrheit gefolgt zu sein, führt dazu, dass wir uns als selbst unter erschwerten Bedingungen vertrauenswürdigen, verlässlichen, authentischen oder integeren Menschen erfahren… Je mehr diese Eigenschaften dem entsprechen, wie wir selbst gerne sein oder doch zumindest wahrgenommen werden wollen, desto wahrscheinlicher empfinden Menschen in derartigen Situationen selbst dann, wenn ihr Handeln nicht zu den erwünschen Ergebnissen geführt hat, mindestens eine kleine Welle aus vor sich selbst verdientem Stolz durch den Körper strömen…
Jede winzige Entscheidung zu Mut, Entschlossenheit, Authentizität oder Integrität in unserem Leben trägt auf diese Weise sowohl direkt als auch über Bande zu einer größeren Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit bei… Auch hierbei spielt das Lernen durch stetige Wiederholung eine wichtige Rolle… Es ist in Bezug auf unser Selbstbild weitaus wirksamer, 100mal in ganz kleinen Dingen des alltäglichen Miteinanders ein winziges bisschen mutig gewesen zu sein, als ein einzelnes Mal während einer emotionalen Ausnahmesituation…
Tägliche Praxis:
Tue jeden Tag irgendetwas, das dich wenigstens ein kleines bisschen Mut kostet…! Tue jeden Tag irgendetwas, das dein eigenes Spiegelbild wenigstens ein kleines bisschen beeindruckt…!
Fazit: Es ist keine Raketenphysik…
„Mut bedeutet nicht, keine Angst zu haben…
Mut bedeutet, dass uns etwas anderes
wichtiger ist als die Angst…!“
James Neil Hollingworth (1933 – 1996)
Der Weg zu einem stabilen Selbstbewusstsein ist nicht kompliziert, aber er ist doch zumindest am Anfang oft anstrengend und schmerzhaft…
Es kostet Zeit, Energie und Aufmerksamkeit, geduldig nach innen zu lauschen, bevor wir eine Entscheidung treffen, anstatt impulsiv und unreflektiert denjenigen Stimmen zu folgen, die in unserer Psyche akut am lautesten brüllen…
Viele Pädagog:innen kennen das Sprichwort: „Lieber geschlagen als ignoriert…!“ Das gilt für viele von uns auch in unserem erwachsenen Leben… Selbst die giftigsten Menschen, die wir aus unserem Leben entfernen, hinterlassen eine Leerstelle… Dieser Leere zu begegnen, ist oft überaus schmerzhaft… Erst langsam, nach und nach, wird es uns gelingen, diese mit anderen Menschen zu füllen, in deren Gegenwart wir uns gesehen, geachtet und willkommen fühlen… Dieser Zeitraum kann sich potenziell sehr lang und einsam anfühlen…
Schlussendlich fordert auch meine Einladung dazu, uns täglich neu zu beeindrucken, täglich neu einen Tribut… Sie bedeutet schließlich, dass wir uns täglich kleineren oder größeren Ängsten stellen und diese überwinden…
Dieser Weg wird uns zu uns selbst führen… Zu unserer Größe ebenso wie an unsere Grenzen… Er wird uns wahrer Fülle begegnen lassen, zuvor aber möglicherweise abgrundtiefer Leere… Er wird uns krönen, aber zuvor wird er uns kreuzigen…
Je näher wir uns selbst dabei kommen, je neugieriger wir dabei sind auf die Bilder, Stimmen oder Empfindungen, die uns begegnen, und je offener wir bereit sind, uns in die inneren Anteile in uns einzufühlen, die wir auf dieser Reise kennenlernen, desto tiefer, vertrauter und unerschütterlicher wird die Freundschaft zu uns selbst, die wir auf diesem Wege erlangen und erschaffen…
Was hat dir dabei geholfen, dich selbst so wirklich mögen zu lernen…?
Was musstest du überwinden, um dir selbst eine wahre Freundin oder ein wahrer Freund zu werden…?
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