Bin ich „sexpositiv“?!
Was genau bedeutet das Wort eigentlich?
„Ich bin aus eigener Erfahrung durch Beobachtungen
an mir und anderen zur Überzeugung gekommen,
dass die Sexualität der Mittelpunkt ist, um den herum
das gesamte soziale Leben wie die innere Geisteswelt
des einzelnen […] sich abspielen….“
Wilhelm Reich (Arzt)
Ein neues Buzzword schwirrt durch’s Land. Beziehungsweise besser: Längst über den gesamten Planeten. Hierzulande allerdings ist es immerhin noch neu genug, dass der Duden, darauf angesprochen, bislang noch fragend mit den Schultern zuckt. Dabei begann die Reise dieses schillernden Begriffs ursprünglich gar nicht so weit von Deutschland entfernt. Und das schon vor einem Dreivierteljahrhundert.
Bis heute gilt der Wiener Psychiater Wilhelm Reich (1897 – 1957), ein Schüler Freuds, als der Herold der sexpositiven Bewegung. Wortgewaltig prangerte er bereits in den 1930ern die bigotte Sexualmoral seiner Zeit an und warnte eindringlich vor deren Folgen für Körper, Psyche und Gemeinwohl. Mir stellt sich die Frage, wie die Geschichte der Welt wohl verlaufen wäre, wenn Reichs Warnungen früher wahr- und ernstgenommen worden wären. Für die meisten Menschen seiner Zeit kamen sie zu spät. Der zweite Weltkrieg brach aus und riss Europa in’s Chaos.
Doch Gedanken sind wie Viren. Sie sterben nicht. Sie können jahre- und jahrzehntelang in Büchern oder auf Internetseiten unbemerkt überdauern. Sobald sie aber auf einen Geist treffen, in dem sie sich einnisten können, blühen sie auf. Sie treten in Austausch mit bestehenden Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen, sie entwickeln sich weiter. Je größer der Nutzen, den ein solcher Gedanke in seinem Wirtsgeist entfaltet, desto größer die Neigung, dass sein Wirt ein inneres Drängen verspürt, ihn zu teilen und zu streuen.
Der Grundgedanke „Sex ist etwas Gutes, das mein Leben bereichert!“ hat im Laufe der Menschheitsgeschichte voraussichtlich vielen seiner Träger und Trägerinnen eine Reihe von positiven Erfahrungen beschert. Gleichwohl war das gesamte letzte Jahrhundert in Europa und Nordamerika kulturell eher von einer sexualitätsfeindlichen Haltung geprägt. Es gab zwar immer wieder vereinzelte Protagonist*innen eines sexpositiven Kulturwandels, diese waren jedoch, wie Reich, zumeist Einzelphänomene, Missionare und Rebellen. Dennoch überlebte und entwickelte sich dieser Gedanke über Jahrzehnte im Untergrund weiter.
Nun ist er zurück. Und scheinbar haben die Jahrzehnte im Schatten ihn nur stärker gemacht. Tantra, Bondage, BDSM oder Swinging sind inzwischen keine Tabu-Themen mehr, sondern regelrechte Szenen. Szenen überdies, die, wie es mir scheint, gerade aktuell kräftig Zulauf finden. Gleiches gilt für sexuell offene Beziehungsmodelle, wie auch immer wir sie nennen wollen. Auch der Zungenbrecher LGTBQ ist längst nicht mehr eine Aneinanderreihung von gotteslästerlichen Krankheitsbildern, sondern stolzer Ausdruck eines neuen und selbstbestimmten Gruppenbewusstseins.
In den großen Städten des Westens sprießen sexpositive Partys wie Pilze aus dem Boden. Zuvor zersplitterte Initiativen und Vorreiter verbinden und verbünden sich. Über die sozialen Medien entstehen sexpositive Netzwerke. Aktuell vergeht kaum eine Woche, ohne dass zumindest eines der großen Medien-Magazine das Thema Sex anfasst. Nahezu monatlich erscheinen neue Bücher, die uns allesamt einladen dazu, unsere Sexualität aus dem Keller zu holen, sie abzustauben und ihr einen Ehrenplatz in unserem Leben zu geben. Gleichzeitig überbieten sich die großen Streamingdienste darin, in ihren Serien-Blockbustern diese neue, positive Haltung zum Sex bildgewaltig zu zelebrieren. Wow… Da ist auf jeden Fall gerade eine Menge in Bewegung.
Was genau aber bedeutet „Sexpositivität“ in Zeiten wie diesen…?
Was bedeutet „sexpositiv“?
„I’m not a type of feminist
who is afraid to be sexy. „
Megan Fox (Schauspielerin)
Na klar… Irgendwie finden doch die meisten von uns Sex zumindest irgendwie gut. Das allein reicht allerdings nicht aus, um für uns selbst das Stichwort „sexpositiv“ geltend zu machen. Sexpositivität ist mehr. Sexpositivität ist differenzierter, bewusster und konsequenter, als viele von uns glauben.
Auf der Website sex-positive.com lesen wir:
„Sexpositiv bedeutet – für uns – dass wir Sexualität als ein positives Element des menschlichen Lebens ansehen, einschließlich einer offenen und einladenden Haltung gegenüber all seinen vielen Ausdrucksformen sowie eines klaren Bewusstseins für sexuelle Gesundheit und die Bedeutung von klarem Konsens. Unsere Leidenschaft für dieses Thema basiert auf unseren persönlichen Erfahrungen, durch die wir die Sexualität als bereichernde und nährende Kraft in unserem eigenen Leben erfahren durften.“
Hier sehen wir deutlich: Sexpositivität beinhaltet bei Weitem mehr als Sex grundsätzlich okay zu finden oder immer mal wieder horny zu sein. Sexpositivität bedeutet Bewusstheit und Bereitschaft, Entschlossenheit und Verantwortung. Aktuell ist das Einnehmen sexpositiver Standpunkte ein Akt der Rebellion gegen unsere Leitkultur.
Sexpositivität ist eine Haltung uns selbst, unseren Mitmenschen und dem Leben an sich gegenüber. Sie verändert nicht nur unseren Blick auf unsere Liebespartner, sondern auch auf unsere freundschaftlich Vertrauten, unsere Kinder und Wildfremde.
Der Kerngedanke der Sexpositivität lautet in meinen Worten ungefähr so:
„Unsere Sexualität ist integraler Bestandteil unserer Persönlichkeit. Wir erfahren und ehren sie als unerschöpflichen Quell von Lebendigkeit, Selbsterfahrung und tiefem Glück. Jeder Mensch auf Erden hat das unveräußerliche Recht, seine oder ihre Sexualität auf die ihm oder ihr eigene Art und Weise in Fülle und Freude erblühen und gedeihen zu lassen.“
Doch was bedeutet dies konkret
für mich und mein Leben?
Bin ich „sexpositiv“?
Ein kleiner Selbsttest.
„I do quite naughty things now.
I do like to be a bit sexy.“
Kylie Minogue (Sängerin)
Wenn du Lust hast, nimm die folgenden acht Statements als eine unkomplizierte Möglichkeit zum Selbsttest. Je nachdem, ob du ihnen vollkommen zustimmst, eher zustimmst, eher nicht zustimmst oder so gar nicht zustimmst, rechne dir +2, +1, -1 oder -2 Punkte zu. Vermeide, so oft es geht, die Null. Am Ende hast du einen Punktwert, der irgendwo zwischen -16 und +16 liegen wird.
Wie auch immer dein Ergebnis ausfallen mag, fasse es nicht als Bewertung auf, sondern als eine Einladung zu Selbsterkenntnis und persönlichem Wachstum!
01 Selbstverantwortung
Ich achte und bejahe meine eigene Sexualität. Ich gebe ihr einen ehrenvollen, würdigen Platz in meinem Leben. Ich trete ein für die Erfahrungen, die mich glücklich machen, und übernehme in jedem Augenblick die volle Verantwortung für mich und mein eigenes Glück. Dies gilt nicht nur für meine sexuellen Begegnungen mit anderen Menschen, sondern ausdrücklich auch für den Sex, den ich mit mir allein habe. Ich masturbiere gerne und mit Freuden!
02 Entdeckergeist
Ich erforsche und erkunde meine eigene Sexualität. Dafür lausche ich nach innen, auf meine Gefühle, Gedanken und Impulse. Je besser ich mich selbst kenne, desto leichter und spielerischer wird mein Umgang mit mir selbst und all den Gedanken, Gefühlen und Impulsen, die beim Sex in mir aufkommen. Manche von ihnen zeigen mir Grenzen, die es gut ist zu wahren. Andere zeigen mir Türen, hinter denen verlockende Freuden warten. Ich begegne meiner eigenen Lust mit neugierigem Forscherdrang.
03 Wohlwollen
Ich erachte die Sexualität jedes anderen Menschen als ebenso wertvoll und bedeutsam wie die meine. Dies gilt insbesondere für meine Sexualpartner. Da ich weiß, dass eine sexuelle Begegnung entweder nur Gewinner oder nur Verlierer erzeugt, trage ich mein Bestes dazu bei, aus jeder sexuellen Begegnung in meinem Leben (einschließlich jener mit mir allein. 😉 ) eine nur-Gewinner-Erfahrung zu machen. Ich genieße die Ergebnisse, die mir dies beschert.
04 Compersion
Ich erfreue mich daran, wenn andere Menschen in ihrer Sexualität erblühen. Dabei stehe ich allen sexuellen Orientierungen und Spielarten grundsätzlich offen und positiv gegenüber. So lange das, was ein Mensch beim Sex tut, all den daran beteiligten Personen nichts als Glück und Freuden beschert, ist dies für mich ein guter Grund, mich mit diesen Menschen mitzufreuen.
05 Kommunikation
Ich erachte die Sexualität als bedeutsamen, wichtigen und überaus interessanten Lebensaspekt. Ich habe keine Angst davor, mich Mitmenschen gegenüber als sexuell aktives und bewusstes Wesen zu offenbaren. Ich habe wohlwollende Freunde, mit denen ich offen über sexuelle Erfahrungen oder Empfindungen sprechen kann. Ich verfüge über ein umfangreiches Vokabular zur Bezeichnung von Körperteilen, Handlungen und Wünschen sowie zum Ausdruck körperlicher wie emotionaler Prozesse. Ich spreche offen und frei über Sex. Auch beim Sex.
06 Kokreation (oder auch „Consent“)
Da ich mir über die physischen, psychischen und emotionalen Wirkungen von Sex bewusst bin, stehe ich jeder sexuellen Handlung kritisch gegenüber, die einen Menschen in seinem freien Willen beschneidet, entwürdigt oder gar entmenschlicht. Meine eigenen Liebes- und Sexualpartner*innen lade ich aktiv und entschieden dazu ein, mir gegenüber bei einem fehlenden „Ja“ ein „Nein“ auszusprechen. Ich bedanke mich respektvoll und aufrichtig für jedes „Nein“, das ich bekomme, weil es mir zeigt, dass auch mein/e Partner*in gut für sich sorgt. So kann ich ihm oder ihr noch tiefer vertrauen und mich fallen lassen.
07 Verantwortung für den/die Andere/n
Ich bin mir darüber bewusst, dass ungeschützter Sex mit einer fremden Person immer das Risiko der Übertragung sexueller Krankheiten mit sich bringt. Daher kenne ich mich aus sowohl mit den üblichen Übertragungswegen als auch mit den Möglichkeiten, dieses Risiko zu begrenzen. Dieses Wissen wende ich aktiv an.
08 Vorbild
Als Vater oder Mutter bin ich mir bewusst über die Wirkung meines Vorbildes auf meine Kinder und ihr gesamtes weiteres Leben.
Ich lebe meinen Kindern auf altersgerechte Weise vor, dass Sinnlichkeit und Lust wunderschöne Aspekte unseres Lebens als Menschen auf Erden sind.
Ich lade meine Kinder dazu ein, sowohl mich als auch sich selbst nicht nur als kognitive und emotionale, sondern ausdrücklich auch als sinnliche Wesen zu
erkennen und zu erfahren.
Ich ermuntere sie zu Aufrichtigkeit und Integrität; dazu, für ihre Wünsche ebenso wie für ihre Grenzen entschlossen einzutreten.
Ich vermittle meinen Kindern ein differenziertes Vokabular für die Bezeichnung von Körperteilen und Gefühlen, sowie zum Ausdruck von Grenzen, Wünschen und Impulsen.
Na, wie viele Punkte hast du dir eingesammelt?!
Sexpositiv ins 21. Jahrhundert!
Ich hatte die Freude, auf dem ersten „Sexpositive Weekend & Fundraising Ball“ Ende 2019 in Berlin einen Vortrag zu halten und eine Diskussion zu leiten. Einer der vielen interessanten Gäste dort war Felix Rückert, ein Urgestein des Sex-Aktivismus. Felix beschrieb seine Vision von „sexpositiven Räumen in jeder Nachbarschaft“. Zugegeben: Das Bild mag auf den ersten Blick verstörend wirken. Aber warum tut es das eigentlich?
Eine als glücklich und erfüllt erlebte Sexualität hat weitreichende Auswirkungen auf unser Leben. Und sie sind alle positiv. Gesundheit, Fitness, Attraktivität, Intelligenz, Sozialkompetenz… Sie alle blühen mit auf, wenn unsere Sexualität erblüht.
Zu lange haben wir uns von Menschen, die keine Ahnung von erfüllender Sexualität hatten, erzählen lassen, was wir über Sex zu glauben hätten. Unter Wissenschaftlern scheint längst Konsens zu sein, dass unsere Sexualiät ein zentral bedeutsamer Faktor eines glücklichen und gesunden Lebens ist. Warum ist diese Perspektive nicht längst ein Kernbestandteil unserer Leitkultur?
Ich zumindest finde, unsere Sexualität ist es wert und wichtig genug, dass wir unseren Umgang mit ihr lieber auf wissenschaftliche Fakten stellen sollten als auf Hörensagen oder Regeln, die sich Menschen als Gottes Willen ausdachten.
Oder nicht?
Was denkst du?
Hinterlasse mir gerne einen Kommentar!
Lies hier weiter:
Go, fuck yourself! Wir brauchen eine neue Masturbationskultur!
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