Verbotene Gefühle – Scham kenne ich eigentlich gar nicht

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gefühle: abgründe und urgründe

Verbotene Gefühle

„Scham kenne ich eigentlich gar nicht“

Wenn ein Mensch von sich behauptet, bestimmte Gefühle per se nicht zu kennen, dann sollte uns das nachdenklich stimmen. Schließlich werden wir alle per genetischer Grundausstattung grundsätzlich mit dem gleichen Gehirn geboren. Damit einher gehend haben wir alle das gleiche Gefühlsspektrum.

(Eigentlich) keinen Ärger zu kennen, sich nie für irgendetwas zu schämen oder keine Traurigkeit zu verspüren, müsste daher begleitet sein durch einen nennenswerten biochemischen Umbau im innersten Zenrum des Gehirns. Im limbischen System. Zugegeben: die These steht auf dünnem Eis.

Alternativ hat das Gehirn allerdings möglicherweise gelernt, einen aufkommenden Gefühlsimpuls (eine emotionale Energie) in ein anderes Gefühlszentrum umzulenken. Das zum Beispiel erklärt, warum manche Menschen bei aufkommender Scham wie instinktiv aggressiv reagieren. Je stärker der unterdrückte Scham-impuls, desto ausdrucksstärker in der Regel der dadurch inszenierte Ärger.

Wie kommt es dazu, dass Menschen sich ihre Gefühle verbieten?

Alter Schmerz und seine Folgen

Irgendwann in ihrem Leben machen manche Menschen eine so drastische Erfahrung oder erleben so oft wieder und wieder denselben existenziellen Schmerz, dass sie verzeifelt eine Lösung brauchen. Das innere Verbot bestimmter Gefühle ist eine Lösungsstrategie, die zu jener Zeit absolut hilfreich war. Das verdient Wertschätzung. Eine solche Strategie wird oft als so erlösend aus einem lebensentscheidenden Dilemma empfunden, dass sie später nicht nur nie wieder in Frage gestellt, sondern oft sogar auf Anhieb gar nicht mehr erinnert wird. Dieses Gefühl „gibt es nun nicht mehr“.

Ja, in der Tat. Es ist möglich, sich das Fühlen bestimmter Gefühle zu verbieten. Und in manchen Lebenssituation ist dies tatsächlich die allerbeste Wahl. Bevor du jetzt jedoch zu glauben beginnst, dies wäre genau das richtige für dich in deiner akuten Situation, mache dir klar: diese Strategie ist wirksam, aber sie hat einen immens hohen Preis.

Unsere Gefühle haben ihren Sinn. Sie wurden entwickelt, um uns Lösungen zu bieten für schwierige Situationen in unserem Leben. In manchen sind wir aufgefordert, entschlossen für eine Sache einzutreten (Dies ist die Urkraft des Ärgers). In anderen, das anzunehmen, was wir schlichtweg nicht ändern können – so gerne wir uns das auch wünschen mögen (Hierbei hilft uns authentische Traurigkeit). Die Angst bereitet uns vor auf die Zukunft. Sie erhöht unser inneres Energieniveau, um in einer relevanten Situation in der Zukunft bestmöglich handeln zu können.

So gut die Gründe damals auch gewesen sein mögen: wenn uns heute ein Gefühl fehlt, dann fehlt uns eine genetisch verankerte Lösungsstrategie im Umgang mit belastenden Situationen. Mutter natur hat sich etwas dabei gedacht, als sie uns (und neben uns mindestens alle anderen Wirbeltiere) mit eben diesen Empfindungsqualitäten ausgestattet hat. Oder aber: die Evolution hat durch eiskalte Auslese genau diese Gefühlsmuster auf Grund ihrer Nützlichkeit selektiert. Suche dir eine der Deutungen aus! Sie führen beide zum gleichen Ergebnis.

Der Preis der Kontrolle

Wer sich seiner Gefühle beschneidet, beschneidet sich damit zugleich in seiner urtümlichsten Form der Lebendigkeit. Denn das ist es, was unsere Gefühle sind. Das Leben mag sich sicherer anfühlen dadurch. Das stimmt. Vielleicht sagen wir besser: kontrollierbarer. Das trifft es oft eher. Aber ist es das, was wir wirklich wollen?

Ist es das, worauf wir am Ende unseres Lebens zurückblicken wollen? Auf ein kontrolliertes, gezähmtes und ungefährliches Leben, in dem uns nichts aus der Bahn warf und dazu aufforderte, über unsere Grenzen hinaus zu wachsen? Ein leben, in dem wir alles im Griff hatten? Ein leben ohne Risiko?

Was wollen wir wirklich?

Vielleicht – wer weiß das schon genau – ist dies das einzige Leben, das wir bekommen. Natürlich: wir können es im Inneren unserer Komfortzone verbringen. Diese Wahl können wir treffen. Was wir dadurch aufgeben, ist unsere ureigene Lebendigkeit. Im Inneren der Komfortzone werden wir weder erfahren, wozu wir wirklich im Stande sind, noch werden wir dort Wunder erleben. Denn die geschehen allein dort draußen, wo das Leben wild und ungezähmt ist. Das ist der Preis, den wir kennen sollten. Die Wahl, welchem Weg wir durch unser leben folgen, liegt bei jedem von uns ganz allein.

Wenn wir uns erlauben wollen, dass ehemals verbotene Gefühle wieder einen Raum in unserem Leben bekommen, dann bedeutet das, dass wir uns erlauben müssen, Angst und Schmerz zu spüren. Angst, weil wir damit eine Strategie aufgeben, die uns vormals den Eindruck von Sicherheit vermittelt hat. Schmerz, weil wir bislang wahrscheinlich wenig Erfahrungen haben darin, unangenehmen Situationen mit offenem Herzen zu begegnen. Und das kann weh tun.

Leben jenseits unserer Komfortzonen

Die Entscheidung, unser Leben ganz und gar zu fühlen, ist die Entscheidung für den Schritt aus unserer vertrauten Komfortzone hinaus. Dort draußen werden wir erfahren, zu wie viel mehr wir im Stande sind, als wir (und/oder andere) es uns lange zugetraut haben. Dort draußen begegnen uns Abenteuer und Wunder. Dort draußen, und nur dort draußen, wachsen wir hinein in unser ganzes Potenzial.

Aber dort draußen begegnen uns auch Gefahren. Wir werden ent-Täuschungen erleben, Ablehnung erfahren und immer wieder konfrontiert sein mit Angst, Schwäche und Schmerz. Darum ist es hilfreich, wenn wir auf diesem Weg Gefährten haben. Dies können Freunde sein, die denselben Schritt bereits vor uns gewagt haben. Manche von uns finden Unterstützung bei ihren Liebespartnern oder in der Familie. Andere in einem Coach oder einer Therapeutin.

Unsere Entscheidung für das Fühlen ist unsere Entscheidung für das Leben selbst. Es ist die Entscheidung dafür, ganz zu werden, wahrhaftig und menschlich in seiner reinsten Form. Keine Entscheidung bringt uns näher in Kontakt mit uns selbst, mit allem, was wir sind. Erwachsen und klein. Verletzlich und stark. Den Herausforderungen des Lebens gewachsen. Und von der ganzen Vielfalt und Schönheit des Lebens durchdrungen und genährt.

Kontrolle oder Lebendigkeit? Die Wahl trifft jeder und jede für sich. Welchen Weg hast du für dich gewählt? Hinterlasse mir gerne einen Kommentar!

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